Afghanistan: Wer darf nach Deutschland?
14. August 202320 Jahre Kampf gegen Terror und Armut waren weitgehend vergeblich. Die 2001 begonnene und von Anfang an umstrittene internationale Afghanistan-Mission scheiterte am 15. August 2021 endgültig. An diesem Tag gelang es den islamistischen Taliban nach dem überstürzten Abzug der von den USA angeführten ausländischen Truppen, an die Macht zurückzukehren.
Angela Merkels versprach Unterstützung
Unter chaotischen Umständen evakuierte die Bundeswehr Deutsche und Afghanen, die im militärischen und zivilen Bereich viele Jahre kooperiert hatten. Aber längst nicht alle Einheimischen konnten sofort gerettet werden. Ihnen versprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zehn Tage nach dem Debakel in einer Regierungserklärung Unterstützung:
"Wir bemühen uns weiterhin mit allen Kräften, vor allem den Afghanen zum Verlassen des Landes zu verhelfen, die Deutschland als Ortskräfte der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungszusammenarbeit zur Seite gestanden und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektiven eingesetzt haben."
Ortskräfte sitzen auf gepackten Koffern
Zwei Jahre nach diesem Versprechen warten allerdings noch immer tausende ehemalige Ortskräfte, deren Familien und andere gefährdete Personen darauf, nach Deutschland zu gelangen. Wie viele Schicksale weiterhin ungeklärt sind, weiß niemand genau. Das liegt unter anderem daran, dass sich neben staatlichen Stellen auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen um gefährdete Afghaninnen und Afghanen kümmern.
Nancy Faeser nannte im Juni vor dem Menschenrechtsausschuss des deutschen Parlaments Details: Demnach hat Deutschland seit Januar 2022 fast 20.000 frühere Ortskräfte und Familienangehörige aufgenommen. Sie waren vor allem für die Bundeswehr und die Entwicklungszusammenarbeit tätig.
Task Force bearbeitet Gefährdungsanträge
Dass Deutschland noch immer Probleme damit hat, ehemaligen Ortskräften zu helfen, belegen Aussagen von Zeugen im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Ende April berichtete ein hochrangiger Beamter des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dass eine Task Force auch eineinhalb Jahre nach dem Fall von Kabul sogenannte Gefährdungsanträge ehemaliger Ortskräfte bearbeite.
Der für Zentralasien, Afghanistan und Pakistan zuständige Referatsleiter räumte ein, sein Ministerium sei auf diese Aufgabe nicht genug vorbereitet und überfordert gewesen. Es habe auch Überlegungen gegeben, die ausreisenden Ortskräfte heimatnah in Ländern wie Tadschikistan, Usbekistan oder Pakistan unterzubringen. Aber keine einzige Regierung sei bereit gewesen, Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen.
Entwicklungsministerium hat 15.000 Aufnahmen zugesagt
Seit der Machtübernahme der Taliban hat allein das BMZ rund 15.000 sogenannte Aufnahmezusagen für ehemalige Ortskräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und deren Familien gegeben. Davon seien etwa 11.600 nach Deutschland eingereist (Stand: 1. Juli 2023), teilte eine Sprecherin des Ministeriums auf DW-Anfrage mit.
Von den übrigen 3400 Betroffenen befänden sich rund 160 auf der Durchreise in einem Nachbarland. Das BMZ unterstütze mit Hilfe der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) ehemalige Ortskräfte bei der Ausreise nach Deutschland sowie der Versorgung und Unterbringung in Transitländern.
GIZ: "Für jeden Ausreisenden hatten wir ein Sicherheitskonzept"
Aus Sicht der GIZ funktioniert die Evakuierung gut. "Wir haben zu jedem Zeitpunkt gewusst, wer auf welchem Weg ausreisen könnte. Für jeden Ausreisenden hatten wir ein Sicherheitskonzept", sagte der Abteilungsleiter für Afghanistan und Pakistan Anfang Juli 2023 im Untersuchungsausschuss.
Das Bundestagsgremium will auch herausbekommen, warum zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Taliban anscheinend kein ausgereiftes Konzept für die Rettung von Ortskräften existiert hat. Dieser Eindruck hat sich durch Schilderungen geretteter Menschen aus Afghanistan erhärtet.
Annalena Baerbock initiiert ein zusätzliches Programm
Inzwischen beschneiden die Taliban zunehmend Menschenrechte, wovon besonders Frauen und Mädchen betroffen sind. Deshalb hat die Bundesregierung auf Initiative von Außenministerin Annalena Baerbock ein weiteres Hilfsprogramm gestartet. Davon sollen ehemalige Ortskräfte profitieren, aber vor allem auch Afghaninnen und Afghanen, die sich für Frauen und Menschenrechte einsetzen sowie Personen, die aufgrund ihrer religiösen oder sexuellen Orientierung ins Visier der Taliban geraten könnten.
Menschenrechtsorganisationen sehen aber noch Nachholbedarf: "Zugang zu diesem Programm haben ausschließlich Personen, die noch in Afghanistan sind, eine Antragstellung aus Drittstaaten wie Iran oder Pakistan ist nicht möglich. Dies setzt einen gefährlichen Anreiz, in Afghanistan zu bleiben", heißt es in einer Analyse von Amnesty International.
Humanitäre Hilfe in Afghanistan wird fortgesetzt
Obwohl tausende afghanische Ortskräfte ihr Land verlassen haben, gibt es weiterhin humanitäre Hilfe aus Deutschland. Seit die Taliban wieder an der Macht sind, hat das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) seinen Angaben zufolge jedoch keine eigenen Ortskräfte mehr beschäftigt oder eingestellt. Zugleich betont eine Sprecherin auf DW-Anfrage: "Um die notleidende afghanische Bevölkerung weiter unterstützen zu können, ist Personal aus dem Land selbst unerlässlich."
Für das entwicklungspolitische Engagement der Bundesregierung habe die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Personal vor Ort eingestellt. "Die afghanischen Mitarbeitenden der GIZ sind seit August 2021 in erster Linie mit administrativen, technischen und logistischen Aufgaben betraut, unter anderem für die Einschätzung der Sicherheitslage", erläutert die Sprecherin.
Zivilgesellschaftliche Organisationen beschäftigen weiterhin Ortskräfte
Auch zivilgesellschaftliche Organisationen seien weiterhin in Afghanistan tätig und beschäftigten Ortskräfte, heißt es aus dem Entwicklungsministerium. Die Bundesregierung beobachte die Gefährdungslage sehr genau. "Seit der Machtübernahme der Taliban neu eingestellte afghanische Mitarbeitende der GIZ arbeiten nicht in Bereichen, die politisch exponiert sind und damit potenziell eine spezifische Gefährdung darstellen könnten."