Merkel sieht "Jahrhundert-Herausforderung"
15. Oktober 2020"Historisch" werde das Treffen, hieß es im Vorfeld der Konferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder zur Corona-Lage in Deutschland. Viele Journalisten rätselten, was das bedeuten könnte. Allein die Tatsache, dass das Treffen erstmals seit vier Monaten wieder physische Präsenz im Berliner Kanzleramt erforderte und nicht nur eine Teilnahme per Videoschalte, konnte nicht die Erklärung sein. In einem Konferenzdokument fand sich dann ein Hinweis: Der Anstieg der Infektionszahlen habe insofern eine "historische Dimension", als Staaten, denen es gelinge, die Infektionskontrolle zu behalten, wirtschaftlich und sozial besser durch die Krise kämen.
In der Pressekonferenz nach dem achtstündigen Treffen führte Merkel aus, die Pandemie sei eine "Jahrhundert-Herausforderung". Es entscheide sich nicht nur, wie viele Menschen sterben könnten, sondern auch, was aus Wirtschaft und Wohlstand werde. Gerade für die Jugend, die noch mehr Jahre vor sich habe, sei das relevant. Deshalb gehe es darum, jetzt auf manche "Fete" zu verzichten, um später gut leben zu können. Schließlich habe auch Deutschland keine unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten: "Deutschland kann sich einen zweiten Lockdown nicht leisten." Man merkt Merkel in Pressekonferenzen selten an, was in ihr vorgeht. Nur wenn ihre Stimme dunkler und fester wird, ist das anders - und das war ein solcher Moment. Man spürte, es war ihr ernst.
Was beschlossen wurde
Diesem eindringlichen Appell und dem hohen Anspruch an das Treffen entsprechen die konkreten Ergebnisse in der Summe nicht so recht. Im Prinzip wird die bereits bestehende Hotspot-Strategie der Großstädte auf das gesamte Land ausgedehnt. Steigen die Infektionszahlen über bestimmte Grenzwerte, gibt es Sperrstunden für Bars und Restaurants um 23 Uhr und Kontaktbeschränkungen. Wird in einer Region die Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten, sollen bei privaten Feiern nur noch maximal zehn Personen aus zwei Haushalten zusammenkommen. Auch im öffentlichen Raum sollen sich dann nur noch zehn Personen treffen. Zudem ist auf öffentlichen Plätzen mit viel Publikumsverkehr eine Maskenpflicht geplant. Allerdings sind die Kontaktbeschränkungen nur Empfehlungen für die Bundesländer - für die konkrete Umsetzung sind sie selbst verantwortlich.
Zentraler Richtwert für die Maßnahmen ist die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz, die besagt, wie viele von 100.000 Personen sich in einer Woche mit COVID-19 angesteckt haben. Der bei 50 Fällen liegende Warnwert wird nun um eine Warnstufe bei 35 Fällen ergänzt.
Betroffen sind schon jetzt nicht wenige Stadt- und Landkreise. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI), der nationalen Gesundheitsbehörde, liegen drei Kreise bereits über 100 Fällen und 44 Kreise zwischen 50 und 100 Fällen. Mehr als 120 Kreise verzeichnen 25 Fälle, sind also nicht weit weg vom neuen Grenzwert 35.
Was auf dem Spiel steht
Deutschland insgesamt liegt aktuell bei 31,5 Fällen - und damit weit hinter den Zahlen der meisten Nachbarländer, wo die Inzidenzen häufig im dreistelligen Bereich liegen. Wie bei der ersten Welle im Frühjahr könnte Deutschland aber auch nur wieder etwas hinterherhinken. Der Chef des RKI, Lothar Wieler, sagte vor einigen Tagen in einer Pressekonferenz dazu: Dass Deutschland vergleichsweise so gut durch die erste Welle gekommen sei, habe auch daran gelegen, dass Maßnahmen früh eingeleitet worden seien, weil man in den anderen Ländern sehen konnte, "was auf uns zukommt".
Ein weiterer Erfolgsfaktor des deutschen Wegs sei die hohe Akzeptanz der politischen Maßnahmen in der Bevölkerung, sagte Wieler. Die neuen Auflagen dürften daran nicht allzu viel ändern, geht man nach den Ergebnissen des letzten Deutschland-Trends. Im September betrachteten danach bundesweit nur elf Prozent die geltenden Corona-Maßnahmen als zu weitgehend. Für 27 Prozent gingen demgegenüber die aktuell geltenden Beschränkungen nicht weit genug. Obergrenzen für Feiern und eine stärkere Maskenpflicht findet den Demoskopen zufolge jeweils eine große Mehrheit richtig.
Was ungeklärt blieb
Merkel ist weiterhin die beliebteste Politikerin in Deutschland. Sie selbst trat schon vor Wochen als Mahnerin auf. Nach dem jetzigen Treffen betonte sie, dass sie sich mehr gewünscht hätte, also härtere Maßnahmen. "Meine Unruhe ist nicht weg", sagte die Kanzlerin. Denn der derzeitige exponentielle Anstieg der Zahlen - der zuletzt den Rekordwert von 6638 neuen Fällen erreichte - könnte, wenn er nicht schnell gestoppt werde, zu "keinem guten Ende" führen. Nun müsse aber erst einmal abgewartet werden, wie die Maßnahmen wirkten, beruhigte Merkel.
In einem Punkt gab es keine Einigung - aber wohl heftige Diskussionen, wie berichtet wurde. Bereits im Sommer hatte man abgesprochen, dass es Reisebeschränkungen für Menschen aus innerdeutschen Risikogebieten ab einer Inzidenz von 50 geben solle. Nun, zu Beginn der Herbstferien, fielen erste Kreise in den Risikostatus. Danach sprachen einige Bundesländer ein sogenanntes Beherbergungsverbot aus, andere kritisierten das.
Ein Berliner darf demnach zum Beispiel nicht in einem Hotel an der Ostsee übernachten, außer er kann ein negatives Testergebnis vorweisen. Die Hotellerie, die sowieso schon stark unter der Pandemie leidet, schlug Alarm. Die Regelungen führten zu einem "Flickenteppich", wurde kritisiert und eine einheitliche Regelung gefordert. Die kam nun nicht, soll aber am 8. November - zum Ende der Herbstferien - neu verhandelt werden. Bis dahin rief Merkel die Deutschen auf, sich mit dem Reisen zurückzuhalten, weil das dem Virus ansonsten die Verbreitung erleichtere. Sollten sich die jetzt beschlossenen Maßnahmen als nicht ausreichend erweisen, dann "muss nachgeschärft werden", sagte die Kanzlerin.
Was auch eine Rolle spielt
Corona ist wahrscheinlich die letzte große Krise in Merkels Kanzlerschaft. Im Herbst 2021 wird neu gewählt, Merkel will dann nicht mehr antreten.
Geht alles gut, gibt es bis dahin einen Impfstoff, die Lage hat sich beruhigt und Merkel konnte sich erneut als Krisenmanagerin beweisen. Der weitere Verlauf der Pandemie prägt aber wohl nicht nur Merkels Abschied, sondern auch die kommenden politischen Machtverhältnisse.