Antisemitismus: 2024 war in Deutschland "alarmierend"
12. Dezember 2024Rechtsextremismus ist weiterhin eine wesentliche Ursache für antisemitische Vorfälle und antisemitische Gewalt in Deutschland. Das belegt die Studie "Rechtsextremismus und Antisemitismus", die der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (BV RIAS) vor dem Jahresende veröffentlichte.
Antisemitismus geht über rechtsextremes Milieu hinaus
Die Untersuchung erfasste tausende antisemitische Vorfälle in den Jahren 2019 bis 2023 in Deutschland. Bis Ende 2023 sollte man betonen, denn mit dem Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem nachfolgenden Gaza-Krieg "explodierte" - so beschreibt es BV RIAS - die Zahl antisemitischer Vorfälle. Der Trend im Jahr 2024 sei alarmierend. Manche der neueren Äußerungen griffen auf rechtsextrem vorgeprägte Muster zurück, erklären die Autoren der Studie. Antisemitismus sei, sagt RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz, "ein weit über das rechtsextreme Milieu hinaus anschlussfähiges Phänomen".
Daniel Poensgen, wissenschaftlicher Referent des BV RIAS, wies darauf hin, dass die Studie nicht repräsentativ sei und keine Gesamtzahlen abbilde. Es sei einer "hohen Dunkelziffer" auszugehen, denn nach wie vor würden Zahlen nicht umfassend erfasst. Doch kaum eine andere Arbeit bietet vergleichbares seriös ermitteltes Zahlenmaterial: Die Studie benennt den jeweiligen Hintergrund antisemitischer Vorfälle nur dann, wenn ihre Zuordnung gesichert ist. Denn - so Poensgen - dies sei vielfach nicht zu ermitteln, weil Täter unbekannt blieben oder die Motive hinter den Vorfällen nicht eindeutig zuzuordnen seien.
So sei nur bei rund 44 Prozent der insgesamt 13.654 Vorfälle der politische Hintergrund zu benennen. Den größten Einzelaspekt bilden rechtsextreme Hintergründe. Das betrifft weit mehr als ein Drittel der Vorfälle, die man einstufen kann.
RIAS nennt Beispiele für rechtsextrem motiviertem Judenhass. Der bekannteste Fall von "extremer Gewalt" war der Terrorangriff auf die Synagoge von Halle am 9. Oktober 2019. Ein weiteres Beispiel ist der Angriff auf einen Juden in Frankfurt/Main im Juli 2022, bei dem ein Nachbar dessen Tür eintrat und den Juden mit Schlägen verletzte. "Obwohl einige Hausbewohner die Hilfeschreie gehört hatten, zeigte niemand Zivilcourage oder kam zur Hilfe", heißt es in der Studie.
Als "Angriffe" werden unter anderem Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln oder das Anspucken von Juden auf offener Straße aufgeführt. "Antisemitismus verbindet sehr unterschiedliche rechtsextreme Akteure miteinander. Von der neuen Rechten über die AfD bis zu Fußballfans", sagt Co-Autor Poensgen. Zentrale Bezugspunkte seien der Nationalsozialismus und die Schoa.
Die AfD als "Gefahr für jüdisches Leben"
Das längste Einzelkapitel der Studie, mehr als ein Viertel des Gesamttextes, befasst sich mit dem Thema "Die Alternative für Deutschland und Antisemitismus". Im Bundestag und den meisten deutschen Landtagen sitzen AfD-Abgeordnete. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gilt die Partei als rechtsextrem. "Das Erstarken einer Partei, deren Ideologie systematisch antisemitische Ressentiments auslöst, stellt nicht nur eine Gefahr für jüdisches Leben, sondern auch für demokratische Akteur_innen in Deutschland dar", heißt es zusammenfassend.
In diesem Jahr 2024 legten der BV RIAS und einzelne seiner Landesverbände wiederholt aktuelle Zahlen zu antisemitisch bewerteten Vorfällen vor. Auch Innenpolitiker äußern sich besonders nach entsprechenden Ereignissen. Der Bundestag debattierte und verabschiedete im Herbst eine Resolution. Kurz vor Weihnachten legte auch die Bundesregierung ihren zweiten "Bericht zur Bekämpfung von Antisemitismus" vor. Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte: "Es ist (…) unsere Verantwortung, alles zum Schutz von Jüdinnen und Juden zu tun." Antisemitismus sei ein "eigenständiges gesellschaftliches Phänomen", die Antisemitismus-Forschung müsse ausgebaut werden.
Um die Auswirkungen des Antisemitismus zu verdeutlichen, gab der RIAS-Bundesverband Raum für einen Erfahrungsbericht der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Dresden, Ekaterina Kulakova. Die Musikpädagogin, die seit bald zwei Jahren für die Gemeinde in der sächsischen Landeshauptstadt spricht, schilderte eindrücklich die Situation der Dresdner Gemeinde. "Wir haben regelmäßig Schmierereien an der Synagoge und am Jüdischen Friedhof", so die 55-Jährige. "Wir könnten eine kleine Ausstellung machen, es ist alles dokumentiert." Sie erzählt auch, wie sie gelegentlich, wenn eine Demonstration vorbeiziehe, während jüdische Kinder im Gebäude unterrichtet würden, mit dem Hausmeister im Innenhof der Synagoge hinter dem Schutzgitter stehe, um gewappnet zu sein und Schlimmeres zu verhindern.
Aber es gehe nicht allein um Angriffe auf das Gebäude, so Kulakova. Eine Bedrohung oder Beleidigung könne beispielsweise auch beim Bäcker passieren. Längst sei ihnen geraten worden, beim Einkaufen keine jüdische Kopfbedeckung zu tragen und nicht zu erzählen, dass sie Juden seien.
Massive Schutzmaßnahmen vor Synagoge
Kulakova nannte noch eine besondere Einschränkung, die die Sicherheitsmaßnahmen für die Jüdische Gemeinde zu Dresden zur Folge hätten. Die Synagoge sei ein schöner Bau mit großer Glasfront, weil man ein gastfreundliches Haus habe sein wollen. "Man konnte einfach hereinkommen", sagte sie. "Jetzt nicht mehr, seit zwei Jahren nicht mehr." Die "absoluten Schutzmaßnahmen" machten Besuche unmöglich, und seien "nicht nur wegen muslimischen Antisemitismus" verschärft worden.
Die RIAS-Veranstaltung mit Kulakova fand im Landtag von Brandenburg in Potsdam statt. Der Weg dahin führt an der neuen Synagoge vorbei, die Anfang Juli 2024 mit politischer Prominenz eröffnet worden war. Der Bundespräsident hielt eine Rede, die Außenministerin war dabei. Damals zeigte man sich auch stolz auf das kleine Cafe im Erdgeschoss als Möglichkeit zur Begegnung. Nun kleben Schilder am Eingang: "Geschlossen" und "Bis auf weiteres keine Besuchsmöglichkeit".