Theater am Hotspot
2. April 2010"Lasst alles, was irgendwie wertvoll erscheinen könnte, im Auto", sagt Christoph Gurk, als wir mit dem Berliner Theater-Team zum Rundgang durch den Johannesburger Stadtteil Hillbrow aufbrechen. Er ist Kurator des Theaterprojekts "X-Wohnungen" und kennt die Gegend schon; er war zur Vorbereitung mehrmals hier. Jetzt geht es um die Feinabstimmung: In welcher Wohnung kann welche Performance stattfinden? Internationale Künstler aus Deutschland und Südafrika werden das Projekt realisieren, und einige Menschen, die bereit sind, ihre Wohnungen zur Bühne zu machen, werden wir heute kennen lernen.
Also wirklich alles im bewachten Parkhaus lassen? Mikrofon und Kamera müssen mit, beschließe ich, aber es bleibt ein mulmiges Gefühl. Wohl jeder hat Berichte über Gewalt und Überfälle im Kopf, wenn er an sogenannte No-Go-Areas in Johannesburg denkt. Die Kriminalitätsrate dort zählt zu den höchsten weltweit, als besonders problematisch gilt Hillbrow.
Absturz der Avantgarde
Dabei war der Stadtteil früher mal ein angesagtes Quartier, in dem sich die kulturelle und subkulturelle Avantgarde tummelte: Hier gab es die ersten Schwulenbars, hier trafen sich Menschen aller Hautfarben zum Boheme- und Partyleben. Doch inzwischen ist Hillbrow ein rein "schwarzes" Quartier mit übelstem Image. "Da kannst du dich nicht reintrauen", das sagen nicht nur privilegierte Weiße, das sagen auch Leute aus Soweto, die ein raues Leben gewohnt sind. Umgekehrt gilt das allerdings auch: "Geh bloß nicht nach Soweto", heißt es in Hillbrow. Ängste und Angstprojektionen bestimmen den Alltag zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Was die Apartheid hier angerichtet hat, lässt sich nicht in 16 Jahren Demokratie einfach revidieren.
Genau das war eine Herausforderung für das Team der Berliner Theaters "Hebbel am Ufer" (HAU) um Christoph Gurk: Ihr Projekt ist zwar in erster Linie Kunst, aber nicht im luftleeren Raum: "X-Wohnungen" ist zugleich ein Stück Stadterkundung. Und stellt Begegnung mit Menschen und Lebensumständen her, die im Theater normalerweise nicht zu finden sind. Wir ziehen also los, um Menschen zu besuchen, deren Wohnungen zum Spielort werden könnten. Und begegnen weder Messerstechern noch Taschendieben, sondern überraschend vielen Leuten, die täglich mit Kultur zu tun haben. Denn Hillbrow hat nicht nur Probleme, sondern auch ein Theater.
Regisseur Linda Michael hat eine Reihe befreundeter Künstler aktiviert, die ihre Apartments zur Verfügung stellen wollen. Sie alle leben in Hochhäusern, die schon bessere Tage gesehen haben. Und teilen sich ihre kleinen Behausungen oft mit Freunden, Freundinnen, Verwandten und einer Menge Kindern. Manche Zimmer sind mit großen Betten zugestellt, daneben aufgetürmte Klamottenstapel - künstlerisch relaxte Ordnung oder doch eher schlichter Mangel an Möbeln? Wir dürfen uns überall umschauen, Linda Michaels Freunde finden das Projekt aus Berlin spannend und gehen locker damit um.
Leben im Hochsicherheitstrakt
Aber das "HAU"-Team hat auch Kontakte zu anderen Menschen in Hillbrow geknüpft. Da ist zum Beispiel Ivy, die noch nie im Theater war, aber um so öfter beim Fußball. In ihr Haus zu kommen, ist schwierig: Im Erdgeschoss des Hochhauskomplexes mit Frisörladen, Wäscherei und Copy Shop sitzen Leute einer Security-Firma, die uns nicht reinlassen. Endlose Diskussionen, der Chef ist nicht erreichbar. Gelegenheit zu einem Gespräch über die Sicherheit in Hillbrow. "Früher war es schlimm", sagt der Künstler Thabang, der uns begleitet. "Da bist du morgens aus dem Haus gegangen und hast jeden Tag einen gefunden, den sie gerade erschossen hatten. Aber jetzt gibt es so viel Polizei und Security, da passiert das nicht mehr".
Endlich lassen uns die Wachleute mit den gelben Leuchtstreifen-Westen ins Haus, aber schon stehen wir vor der nächsten Hürde: Warten auf den Aufzug, bestimmt eine Viertelstunde lang. Nichts tut sich. Also ein Treppenmarsch bis zur 15. Etage. "Dass der Aufzug ausfällt, passiert hier ziemlich oft", erzählt Ivy völlig außer Atem, "diese Woche ist es besonders schlimm". Aber eigentlich wohnt sie ganz gerne hier. In ihrer Ein-Zimmer-Wohnung stehen zwei Fernseher und zwei französische Betten. Vom Fenster aus kann sie auf den Fernsehturm schauen, der jetzt, zur WM, mit einem riesigen Fußball ausstaffiert ist. Und an der Wand hängt ein Hochglanz-Bild ihres Lieblingsteams, der Orlando Pirates. Warum sie ihre Wohnung für Theater zur Verfügung stellt? "Ich weiß gar nicht so richtig, was da passieren soll", sagt sie, "aber die Leute von der Hausverwaltung haben mir gesagt, das hat was mit der WM 2010 zu tun, und da hab ich gesagt, ich bin dabei".
"Die hätten mich fast umgebracht"
In einem anderen Hochhaus besuchen wir Thobeka. Diesmal begleitet uns der Wachmann von der Sicherheitsfirma sogar bis zur Wohnung, die - wie alle hier – mit einer martialischen Gittertür gesichert ist. Nicht ohne Grund, wie uns Thobeka erzählt "Vor ein paar Jahren kam ich morgens nach der Nachtschicht heim, und als ich die Tür aufgemacht habe, sind ein paar Jungs mit mir ins Haus gekommen und wollten mich umbringen. Sie haben gesagt, ich soll ihnen Geld von der Hausverwaltung geben, damals habe ich für die gearbeitet. Aber ich hatte das Geld gar nicht hier. Da hätten sie mich fast umgebracht."
Trotzdem ist Thobeka ganz zufrieden, hier zu leben. Seit ein paar Jahren gibt es in ihrem Haus Wachleute, die sich "Bad Boys" nennen, Angst hat sie nicht mehr: "Ich mag Hillbrow. Bis auf den Lärm, aber sonst gefällt's mir hier. Es gibt öffentliche Verkehrsmittel, alle Geschäfte sind in der Nähe, da musst du nicht viel rumfahren". Sie bietet ihre Wohnung als Spielort an, weil ihr Sohn mit Begeisterung Theater spielt: "Wenn er damit glücklich ist, bin ich das auch". Selbst war sie zwar noch nie im Theater, aber sie ist gespannt auf etwas Neues. Vielleicht wird ihr Apartment ja ausgewählt für "X-Wohnungen"; noch steht nicht endgültig fest, welcher Künstler sich wo ans Werk machen wird.
Einer von ihnen ist Regisseur und Dramatiker Paul Grootboom, der in Deutschland schon als Südafrikas Shooting Star gilt. Paul stammt aus Soweto, aber "X-Wohnungen" will er unbedingt in Hillbrow machen. Es reizt ihn, in Wohnungen von Menschen zu arbeiten, die niemals Kontakt mit Theater hatten: "Ich finde die Idee toll, gerade weil es was Voyeuristisches hat. Das ist natürlich ziemlich grenzwertig, es kommt drauf an, wie man mit den Leuten und ihren Wohnungen umgeht." Aber letztlich ist er als Künstler kompromisslos: "Selbst wenn es für die Leute hier vielleicht nicht so gut sein sollte - fürs Theater ist es auf jeden Fall gut", konstatiert er und lacht. Auch mit den potentiellen Zuschauern hat er wenig Erbarmen: Seine Performance wird in der 9. Etage eines Hochhauses stattfinden, in dem der Aufzug gar nicht mehr funktioniert; da muss sein Publikum eben zu Fuß rauflaufen: "Die werden das schrecklich finden, aber ich finde das prima!" feixt er. Auch das ist Teil des Theater-Experiments "X-Wohnungen": Von allen Beteiligten wird ein ungewöhnlicher Einsatz verlangt.
Zwiespältiges Projekt
In Hillbrow gehört dazu auch die Überwindung von Ängsten, während man von Wohnung zu Wohnung geht, wie es das Theaterpublikum später tun wird: Jeweils zehn Minuten dauert die Aufführung in einer Wohnung, dann zieht man weiter zur nächsten und geht dabei zu Fuß durch die Stadt. Für Außenstehende eine Herausforderung. Und diejenigen, die hier leben, haben üble Erfahrungen in ihrem Quartier gemacht – aber unisono sagen alle: Das war früher, heute ist es hier okay. Wir Europäer gehen jedenfalls völlig unbehelligt durch die Straßen von Hillbrow – mit unseren Begleitern, die das Viertel in- und auswendig kennen.
Dennoch: Dass sich weiße Fußballtouristen in dieses Theater-Abenteuer stürzen, das am Ende der WM in Hillbrow stattfinden soll, ist nicht sehr wahrscheinlich. Es wäre auch nicht Sinn der Sache, findet Regisseur Paul Grootboom: "Wenn sich das nur Fremde anschauen würden, wäre das für meinen Geschmack zu exotisch. Aber wenn unsere Leute kommen, finde ich das in Ordnung. Es ist zwar ein zwiespältiges Projekt, das macht mir auch zu schaffen. Aber es geht schließlich um Kunst. Und Theater soll ja nicht glatt und zuckersüß sein, sondern auch unbequem". Dafür wird er sicherlich sorgen; in seinen Stücken prangert er immer wieder die Probleme Südafrikas an, von sexueller Gewalt bis Korruption in der Regierung.
Fußball als Religion?
Dass Kunst auch immer ein Stück Gesellschaftskritik ist, darin ist er sich einig mit Tracy Rose, ebenfalls international gefragte Künstlerin und Schwarzen-Aktivistin aus Johannesburg, die für "X-Wohnungen" eine Performance in Soweto machen wird. Wenn sie an die Bedingungen denkt, unter denen die Menschen dort leben, schießt ein Feuerwerk an Wut und Empörung aus ihr hervor, über die Regierung unter Präsident Zuma, über die FIFA und über die Fußball-WM in Südafrika: "Die Regierung interessiert sich einen Dreck für Kultur! Das bisschen Kultur machen sie hier nur für den Tourismus! Unsere Leute hier werden mit Fußball abgespeist – das ist wie eine Religion, wie Opium!" Sie will das alles unterlaufen mit ihrer Performance. Besonders wichtig ist ihr, Kinder aus Sowetos Armenviertel Kliptown in ihre Arbeit einzubeziehen: Den Chancenlosesten eine Chance geben, da kämen Kunst und Leben auf eine Weise zusammen, die selten ist.
Was auch immer bei X-Wohnungen passiert: Wer sich im Juli auf das Theater-Abenteuer einlässt, sei es als Wohnungsgeber, als Künstler oder als Zuschauer, wird Grenzen überwinden müssen. Ein bisschen pathetisch ließe sich wohl sagen, dass alle Identitäten auf den Prüfstand gestellt werden. Wenn Leute aus Hillbrow nach Soweto ins Armenviertel Kliptown kommen und umgekehrt, wenn vielleicht sogar ein paar Johannesburger aus privilegierten Stadtteilen oder eine Handvoll ausländischer Besucher kämen und feststellten, dass sie nicht auf Mord und Totschlag treffen, sondern auf Zandi und Busisiwe, auf Ivy oder Thobeka, dann wäre das nicht das geringste Verdienst des Projekts. Vielleicht kommen Menschen miteinander ins Gespräch, die sich das niemals vorgestellt hatten. Und im besten Fall erleben sie aufregendes Theater an einem Ort, der verunsichert, auf eine Art und Weise, die noch lange nachwirkt. Mein Besuch jedenfalls hat erst einmal mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Autorin: Aya Bach
Redaktion: Sabine Oelze