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Musik

Oksana Lyniv dirigiert in Bayreuth

Gero Schließ
25. Juni 2021

Sie leitet als erste Frau das Orchester der Bayreuther Festspiele. Im DW-Interview erzählt die ukrainische Dirigentin, was ihren Charakter ausmacht.

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Dirigentin Oksana lyniv
Sie ist die erste Frau am Bayreuther Dirigentenpult: Oksana Lyniv aus der UkraineBild: Oliver Wolf

Oksana Lyniv ist in Bayreuth angekommen. Sie hat sechs Wochen Zeit, um Richard Wagners Oper "Der fliegende Holländer" mit einem internationalen Ensemble einzustudieren. Am 25. Juli dirigiert sie die Premiere, mit der das berühmte Wagner-Festival eröffnet wird. In der Probenpause hat sich die Dirigentin mit den DW-Reportern Gero Schließ und Anastassia Boutsko getroffen.

Deutsche Welle: Frau Lyniv, Sie hatten etwas Zeit, um sich in dem legendären Orchestergraben umzuschauen. Wie gefällt er Ihnen?

Oksana Lyniv: Ganz gut. Ich kann die Bühne gut sehen und kann im Stehen dirigieren, dafür habe ich genau die richtige Größe. Denn dieser Graben ist für Richard Wagner maßgeschneidert.

…der bekanntlich 166 Zentimeter groß war. Wie dirigieren da Ihre männlichen Kollegen?

Je nachdem, einige vielleicht auch im Sitzen. Grundsätzlich ist dieser Graben und der ganze Orchesterapparat sehr besonders, allein schon von der Sitzordnung her, die ganz anders ist als in einem herkömmlichen Orchester.

Oksana Lyniv, Dirigentin, vor dem Bayreuther Festspielhaus in einem orangefarbenen T-Shirt mit der Aufschrift "Keep Calm and play Wagner-Tuba"
Ruhe bewahren: Oksana Lyniv vor dem Bayreuther FestspielhausBild: Gero Schließ/DW

Sie dirigieren mit dem "Fliegenden Holländer" eine Premieren-Produktion auf dem Grünen Hügel. Wie ist Ihre Herangehensweise an dieses Werk?

Das Arbeiten an einem Werk bedeutet für mich immer ein Eintauchen in das Leben und die geistige Welt des Komponisten. Bei der Vorbereitung auf dieses Dirigat war ich unter anderem in Meudon bei Paris, wo Wagner als junger Mann an seinem "Holländer" arbeitete. Bitterarm, gescheitert, enttäuscht vom Misserfolg an der Grand Opera. Und dieser jugendliche Zorn, dieser Drang nach dem Motto "Ich werde es euch allen zeigen" - das ist vom ersten Takt des "Holländers" an zu hören. Genau das war für mich der Schlüssel. Dieses Werk kann man nicht von der Position des reifen Wagners aus wahrnehmen und interpretieren. 

Blick zum Innenraum des Richard-Wagner-Hauses in Meudon, Bücherregal
Hier flog der "Fliegende Holländer" los: in Richard Wagners Haus in MeudonBild: Oksana Lyniv

Auch Sie haben sich als junge Frau durchgeboxt in einem Beruf, der eigentlich immer noch als Männerberuf gilt. Und das auch noch in der Ukraine, einer Gesellschaft, die eher vom Patriarchat geprägt war. Wie schwer war es, sich durchzusetzen? Und inwiefern hat Sie das bis heute geprägt?

Als ich mein Studium als Dirigentin angefangen habe, war ich erst einmal die einzige in der ganzen Hochschule in Lwiw. Ich musste mir immer wieder anhören: "Warum willst du das? Das wird sowieso nie was werden." Und so weiter und so fort. Aber ich habe gleich einen inneren Magnetismus in diesem Beruf gespürt. Der Anziehungspunkt war für mich nie das Dirigentenpult selbst. Also, dass man da vorne steht und sagt, wo es lang geht. Es ging und geht immer nur um die Musik, die Werke von Komponisten. Die Sechste von Tschaikowsky zu dirigieren oder Puccinis "Tosca", Wagners "Walküre" oder Mahlers Symphonien - das war mir wirklich wichtig, das hat mich regelrecht berauscht. Und hat mich immer wieder auf meinem Weg bestärkt.

Lassen Sie uns darüber sprechen, worüber gerade die ganze Welt spricht: Sie sind die erste Frau, die im Wagnerschen Musentempel dirigiert. Wie wichtig ist das für Sie?

Dadurch, dass ich eine Frau bin, wird die "Holländer"-Partitur weder leichter noch schwerer. Dass ich hier als Frau am Pult stehen kann, ist vielleicht auch ein Symbol unserer Zeit. Natürlich hoffe ich, ein positives Beispiel zu liefern. Das wäre nicht nur für mich persönlich wichtig, sondern auch - pathetisch gesagt - für die Welt und für die Zukunft.

Wenn man Sie dirigieren sieht, wirken Sie sehr entschlossen. Man weiß sofort: Das ist die Chefin. Muss eine Dirigentin eigentlich strenger sein als ein Dirigent?

Nein, sie muss nicht strenger sein. Egal ob Frauen oder Männer: Ich glaube, dass es im Grunde dasselbe ist. Charakter spielt immer eine zentrale Rolle für einen Dirigenten.

Orchestergraben in Bayreuth
(Un)bequemer Arbeitsplatz: der Bayreuther OrchestergrabenBild: Günter Gräfenhain/imagebroker/imago images

Wie würden Sie Ihren Charakter beschreiben?

Es ist mir schon wichtig, meine musikalischen Vorstellungen genau umzusetzen. Und wenn das nicht der Fall ist, dann muss es starke Gründe geben, warum es nicht so ist. Ich bin immer aufgeschlossen für Kompromisse, anders würde der Opernbetrieb nicht funktionieren. Aber die Idee des Komponisten, die Form des Werkes, darf nicht gefährdet werden. Gleichzeitig bin ich sehr selbstkritisch und leide auch sehr.

Man könnte sich gut vorstellen, dass Ihnen diese Eigenschaften jetzt auch bei den Bayreuther Festspiele helfen, einer mit Traditionen und eingefahrenen Strukturen fast schon überfrachteten Institution. Haben Sie da Respekt oder sogar Ehrfurcht vor so einer Aufgabe und so einer Institution?

Das ist keine Angst. Es ist schwer zu beschreiben. Bayreuth ist eine ganz besondere Welt, eine Welt für sich. Ein wirklich magischer Ort. Es geht hier nicht nur um Aufführungen toller Werke mit hochkarätigen Künstlern. Hier geht es um Richard Wagners Gesamtkunstwerk und seine Philosophie. Man spürt seine unglaubliche, titanische Energie, mit der er die Opernkunst, ja die ganze Musik in völlig neue Bahnen gelenkt hat. Er hat die Türen für die neue Musik geöffnet. Das Ganze hat auch etwas Buddhistisches: Um an diesen Ort zu pilgern, muss man seinen eigenen Alltag erst hinter sich lassen und sich einer Herausforderung der ganz besonderen Art stellen.

Oksana Lyniv in einer Volkstracht, Kapaten-Gebirge im Hintergrund
Eine Ukrainerin in Bayreuth: Oksana Lyniv sammelt und trägt VolkstrachtenBild: Oleg Pavlychenko

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch in Bayreuth?

Natürlich. Das war im August 2013. Kirill Petrenko hat "Die Walküre" dirigiert. Ich durfte diese Vorstellung besuchen, da ich die Einladung bekam, demnächst seine Assistentin an der Bayerischen Staatsoper zu werden. Nur für diese eine Vorstellung bin ich von Lwiw (Lemberg) nach Bayreuth gereist.

Als das Licht erloschen war, herrschte vollkommene Dunkelheit. Man sah den Dirigenten nicht, aber man spürte diese Erwartung von Tausenden von Menschen, die aus aller Welt kommen. Und dann plötzlich beginnt das Orchester zu klingen und man versteht nicht, woher der Klang kommt. Es klingt fast mystisch, als käme er aus der Erde. Sogar jetzt, wenn ich darüber spreche, bekomme ich eine Gänsehaut. Ich weiß nicht, was stärker sein kann. Für uns Musiker ist das Gesamtkunstwerk Bayreuth eine Art Religion.

In der Produktion "Der Fliegende Holländer" arbeiten Sie mit einem internationalen Team. Wie deutsch ist das heutige Bayreuth noch?

Tatsächlich: Unser Holländer, John Ludgren, kommt aus Schweden, Asmik Grigorian, die Senta singt, ist armenisch-lettischer Abstammung. Dmitri Tscherniakov kommt aus Russland, ich bin Ukrainerin. Im Chor und Orchester machen Musiker aus mehr als 30 Nationen mit. Ich glaube, Bayreuth ist genau so international wie die ganze Musikwelt. Vielleicht sogar einen Tick internationaler.

Oksana Lyniv beim Campus-Projekt der DW und des Beethovenfestes, 2017, vor dem Jugendorchester.
Lwiw, Kiew, Bonn, Berlin... fehlt noch Bayreuth. Oksana Lyniv beim Campus-Projekt der DW und des Beethovenfestes 2017Bild: DW/F. Görner

2017 waren Sie Dirigentin des Campus-Projektes der Deutschen Welle und des Beethovenfestes. Welche Rolle hat dieses Projekt in ihrem Werdegang gespielt?

Eine sehr wichtige. Vor allem, weil es im Zuge der Vorbereitung, mit Unterstützung der Deutschen Welle, des Bundesjugendorchesters und des Beethovenfestes, zur Gründung eines neuen Orchesters kam, das nun unter dem Namen "Youth Symphony Orchestra of Ukraine" (YsOU) einen Erfolg nach dem anderen feiert. Dieses Orchester und der damit verbundene Versöhnungsgedanke sind für mich als Ukrainerin zentral.

Sie werden auch in Bayreuth in einem Ihrer schönen Dirigentenkostüme auftreten, die Ihr Markenzeichen geworden sind - eine Art durchaus weibliche Variation der herkömmlichen Dirigenten-Kluft, mit einer geradezu kosakenhaften Schärpe. Außerhalb der Bühne brillieren Sie mit fulminanten Volkstrachten. Wie haben Sie zu ihrem Stil gefunden?

Für mich ist das Dirigentenkostüm eine Art Rüstung. Ich muss mich total sicher füllen. Aber es muss auch elegant und vor allem bequem sein, dass ich mich voll auf die Musik konzentrieren kann. Schon seit meinem Staatsexamen gestaltet eine Lemberger Kostümdesignerin, die auch an der Oper Lwiw arbeitet, meine Bühnen-Outfits. Was die Schärpe anbelangt, so dachte ich, sie ähnelt eher einem japanischen Kimono. Ansonsten ist sie sehr praktisch: Sie hilft einem, die Haltung zu bewahren.

Oksana Lyniv, Dirigentin, in Schwarzem Kostüm mit rosafarbenen Schärpe
Kimono oder Ritterrüstung? Oksana Lyniv hat Ansprüche an das DirigentinnenkostümBild: Sergej Horobets

Was die Trachten anbelangt: Ja, da bin ich eine Närrin, eine passionierte Sammlerin. Denn die ukrainischen Volkstrachten, die "Vyschivankas", sind mehr als nur Kleidungsstücke: Das ist die Seele des Volkes. Jede Region, ja jeder Ort hatte eine eigene Farbigkeit, ein eigenes Stickmuster. Ich trage sie aber auch im Alltag - oder eben zu festlichen Anlässen. Das hilft mir, in der Fremde meine Identität zu bewahren.

Am 30. Juli 2021 porträtiert DW-TV Oksana Lyniv in einer Sonderfolge der Sendung "Kultur 21" / "Arts 21".