Berlin will einen Imagewandel
24. November 2011Die Berliner Innenstadt wird immer voller. Das liegt auch an den Touristen. Monat für Monat werden neue Rekorde verbucht. Ende des Jahres 2011 werden es wohl 9,8 Millionen Berlin-Besucher sein. Insgesamt können sich die Hotels über voraussichtlich 22 Millionen Übernachtungen freuen. Und schon im Jahr 2016 soll die 30-Millionen-Marke geknackt werden, heißt es in einer neuen Tourismus-Studie der Investitionsbank Berlin. In Anwohner-Blogs wie "auguststrasse-berlin-mitte.de" grassiert die Angst vor der "Touristifizierung" der lieb gewonnenen Innenstadt. Diese Angst ist nicht ganz unbegründet: Wer Touristenhochburgen wie Prag oder Venedig besucht, der sieht, was Fachleute "Disneyfizierung" nennen, also den Wandel vom urbanen Ort zum Themenpark für Touristen. Über dieses Schreckensszenario machen sich derzeit viele Berliner lautstarke Gedanken.
Doch es gibt auch vermeintlich Positives, was sich im veränderten Straßenbild zeigt. So schrieb die deutsche Männerlifestyle-Zeitschrift "GQ" in ihrer Dezember-Ausgabe: "Hauptstadt der Slacker, Punks, Dreckspatzen? Das war einmal. Gerade die Männer sind in Berlin schon heute im Alltag verdammt gut gekleidet." Und das liegt wohl auch daran, dass immer mehr typische Geschäftsleute in der Innenstadt arbeiten und leben. Am Bahnhof-Friedrichstraße zum Beispiel haben weltweit agierende Anwaltssozietäten ein neues Büro-Hochhaus bezogen.
In der Mittagspause schwärmen die schick gekleideten Angestellten aus - auf der Suche nach etwas Ruhe und nach Nudeln, Salat oder Kasslerbraten. In den neudeutsch Foodstores genannten Imbissen treffen sie kaum noch auf die vielbeschriebenen Latte-Macchiato-Mütter. Für diese ist das Gedränge auf den Fußwegen wohl zu groß geworden.
Krawattenträger und Wohn-Hochhäuser
Von allen Seiten wird die noch vor wenigen Jahren in Berlin-Mitte vorherrschende Gemütlichkeit angegriffen. Rund um den Gendarmenmarkt an der Südflanke bestimmen Krawattenträger und Frauen in schicken Kostümen das Straßenbild: das liegt sicherlich auch an den neugebauten Upperclass-Wohnungen und Townhouses im Viertel. Arbeiten und Wohnen in der Innenstadt ist trendy. Passend hat hier jüngst die Filiale einer US-amerikanischen Edelmarke für Einrichtungsgegenstände aufgemacht.
In Richtung Osten auf dem Alexanderplatz soll nun der erste von sechs geplanten, 150 Meter hohen Wolkenkratzern gebaut werden - allerdings nicht als Bürohaus, sondern als Wohnturm. Luxuriöse Wohntürme seien der Trend dieses Jahrzehnts, heißt es von Seiten der Immobilienwirtschaft, die sich schon jetzt über steigende Büro- und Wohnmieten rund um den Alexanderplatz freut. Noch weiter in Richtung Osten, dort wo einst in der "Bar 25" und im "Ostgut" das internationale Partyvolk legendäre Exzesse feierte, entsteht ein neues Büroviertel - Hauptmieter wird Daimler-Benz sein.
Es wird langsam eng
An der Nordseite von Berlin-Mitte eröffnet im nächsten Jahr die neue und imposante Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND) mit 4000 Mitarbeitern. Unweit davon entfernt wird die so genannte Europacity gebaut. Hier entstehen Wohnungen, Büros und noch mehr Hotels. Rund um den Reichstag wird es ebenfalls eng. Zu eng zum Beispiel für den berühmten Bundespressestrand, an dem sich Politiker, Journalisten und Touristen im Sommer zum gemeinsamen Cocktail-Schlürfen trafen. Hier baut jetzt das Bildungsministerium.
Und mittendrin in Berlin-Mitte - gegenüber der Museumsinsel - investiert der Berliner Unternehmer Ernst Freiberger in ein Luxusquartier mit Residenzen, Palais, Kunst und Think Tanks. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass es in Berlin-Mitte in fünf oder zehn Jahren alternative Orte wie das von der Schließung bedrohte Kunsthaus Tacheles nicht mehr geben wird.
Die Nerds kommen
Andere Entwicklungen werfen ihre Schatten voraus, die für noch mehr Dynamik sorgen könnten. Berlins führendes Stadtmagazin "Tip" macht seine aktuelle Ausgabe auf mit dem Titel: "Die Revolution der Nerds. Eine neue Gründergeneration erobert die Stadt: Wird Berlin das nächste Silicon Valley?" Als ein Epizentrum dieses Booms mit dutzenden Firmen-Neugründungen - so genannten Start-Ups - etabliert sich derzeit die Torstraße, eine der wenigen noch verbliebenen rauen Hauptstraßen von Berlin-Mitte. Hier fand kürzlich ein Speed-Dating mit dem kalifornischen Finanzscout Chris Olsen statt - dabei soll es um zweistellige Millionensummen gegangen sein, die auf vermeintlich zukunftsträchtige Start-Ups warten.
Auch Skype-Gründer und Milliardär Niklas Zennström reiste nach Berlin - auf der Suche nach jungen Firmen, in die er investieren möchte. Es kämen immer mehr Leute aus der ganzen Welt nach Berlin, um hier zu arbeiten, sagte Zennström Berliner Medien. Sylvius Bardt, Unternehmer und Vertreter des Hightech-Verbandes BITKOM, meint, dass Berlin inzwischen zur Gründerhauptstadt in Deutschland aufgestiegen sei und bald London als Start-Up-Hauptstadt überholen könnte. Bei so viel Optimismus drängen sich allerdings Parallelen zum ersten Internethype Ende der 90er-Jahre auf, der nach viel Euphorie mit einem großen Crash endete.
Damals wollten junge Betriebswirtschaftler schnell viel Geld verdienen, sagte der Jungunternehmer Felix Petersen dem "Tip". Das sei jetzt anders. Denn nun würden eher klassische Nerds mit neuen Ideen auf den Markt streben. So wie einst der Apple-Gründer Steve Jobs oder Mark Zuckerberg von Facebook. Das nächste große Ding im Internet werde ganz sicher aus Berlin kommen, erzählt man sich zumindest so in der Szene.
Arbeiten statt Partymachen
Berlin-Mitte wird gern als Labor Berlins, wenn nicht gar Deutschlands beschrieben. Das ist sicherlich ein wenig hoch gegriffen, aber im Rückblick der letzten 20 Jahre betrachtet auch nicht ganz falsch. Die Politik vor Ort hatte ihren Anteil daran. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit von der SPD wird in seiner nun dritten Amtszeit nicht mehr mit der Linkspartei, sondern mit der CDU regieren. In der Koalitionsvereinbarung steht: "Wir werden Berlin zum deutschen Zentrum der urbanen Wirtschaft und der Zukunftstechnologien machen. Wir wollen, dass Berlin reicher wird und sexy bleibt."
Die deutsche Hauptstadt leidet trotz der weltweiten Beliebtheit unter Rekordarbeitslosigkeit und Armut. Zukunftstechnologien und eine enge Vernetzung mit der Wissenschaft sollen neue Arbeitsplätze schaffen. Der Berlin-Slogan "Arm, aber sexy" hat ausgedient! Neueste Entwicklungen stützen die Vermutung, dass es in der Partyhauptstadt Berlin bald nicht mehr so wild hergehen könnte. Im zentralen Tiergarten-Park wurde ein Grillverbot erlassen. Auch über ein strengeres Alkoholverbot für Jugendliche wird diskutiert. Musikclubs in der Innenstadt haben seit Monaten mit Lärmklagen von Anwohnern zu kämpfen - einige mussten bereits aufgeben oder zogen weg.
In den letzten Jahren hörte man amerikanische Touristen immer wieder über Berlin-Mitte sagen, hier sei es so cool wie in New York in den 80er-Jahren. New York, gerne als die große Schwester Berlins bezeichnet, war damals ein Hort der Kreativität. Heute gilt die Metropole als reich, aber langweilig. Ob Berlin sich ähnlich entwickelt?
Autor: Kay-Alexander Scholz
Redaktion: Hartmut Lüning