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Brasiliens Fußball in der Krise: das Ende des schönen Spiels

Tobias Käufer Rio de Janeiro | Ramona Samuel Mitarbeit
22. März 2024

Experten warnen seit langem vor einem Ausverkauf des brasilianischen Fußballs. Ex-Bundesliga-Profi Grafite sieht in den massenhaften Spielerwechseln ins Ausland den Hauptgrund für die aktuelle Krise.

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Argentiniens Nicolas Otamendi setzt sich im WM-Qualifikationsspiel gegen Brasilien mit einem Kopfball gegen mehrere brasilianische Abwehrspieler durch.
Bezeichnend: Weltmeister Argentinien oben, Brasilien untenBild: Ricardo Moraes/REUTERS

Es sind traurige Tage für den brasilianischen Fußball. Die Olympia-Auswahl verpasste gerade die Qualifikation für Paris 2024, die Nationalmannschaft Brasiliens, die "Selecao", liegt in der südamerikanischen WM-Qualifikation nur auf Rang sechs. Für den Rekordweltmeister mit fünf Titeln eine indiskutable Bilanz. Mit Dorival Junior saß am Samstag (23. März) beim 1:0-Erfolg im Freundschaftsspiel in England nun der dritte Trainer innerhalb von zwei Jahren auf der Bank der Nationalmannschaft. Es scheint, als habe der Rekord-Weltmeister seine Fußball-Identität verloren.

"Heute gibt es nicht mehr diesen brasilianischen Fußball", sagt Ex-Profi Grafite, der 2009 in der Bundesliga mit dem VfL Wolfsburg Deutscher Meister wurde. Das klassische "Jogo bonito" - das "schöne Spiel", für das frühere brasilianische Weltstars wie der Ende 2022 verstorbene Pelé bewundert wurden - sei nicht mehr erkennbar, findet Grafite, der seit seinem "Tor des Jahres 2009" gegen den FC Bayern in Deutschland so etwas wie Legendenstatus genießt. Damals tanzte der Brasilianer im Strafraum mehrere Bayern-Spieler aus, um den Ball schließlich mit der Hacke ins Tor zu befördern. Heute begleitet Grafite in seinem Heimatland als Experte für den Sender Globo die aktuelle Entwicklung des Fußballs. 

Mehrere hundert Transfers ins Ausland pro Jahr

Vor wenigen Monaten verstarb der legendäre Mario Zagallo, der als Spieler und Trainer Weltmeister mit Brasilien wurde. Bereits nach der Heim-WM 2014, bei der die Selecao im Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland mit 1:7 untergegangen war, hatte Zagallo vor einem Ausverkauf der einheimischen Talente gewarnt. Der brasilianische Fußball drohe deswegen seine Identität zu verlieren, so Zagallo.

Vor gut 20 Jahren wurde in Europa die Regel aufgehoben, nach der die Vereine nur eine beschränkte Zahl internationaler Spieler einsetzen durften. Damals setzte eine massive Verkaufswelle ein, die bis heute anhält. Inzwischen verliert Brasilien jedes Jahr Hunderte Fußballer in alle Welt.

Brasilianische Betreuer tragen den jubelnden Pelé wird nach dem Sieg im WM-Finale 1970 auf den Schultern.
Pelé - hier nach dem WM-Triumph 1970 - galt als Inbegriff des Jogo bonitoBild: AP Photo/picture alliance

"Das beeinträchtigt den Aufbau der Identität des brasilianischen Fußballs", findet auch David "Dere" Gomes. Der Historiker beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte des Fußballs von Rio de Janeiro. Den talentiertesten Spielern, die in der Lage sind, ein Spiel auf brasilianische Art zu entscheiden, werde die Zeit genommen, ihr Talent im eigenen Land zu entwickeln, meint Gomes. Die brasilianische Fußball-Identität bestehe aber aus der Fähigkeit, etwa mit Dribblings Spiele zu entscheiden.

Top-Transfers verdecken Substanzverlust

Ex-Fußballprofi Grafit im Einsatz als Experte für den brasilianischen TV-Sender Globo
Der Ex-Wolfsburger Grafite fürchtet um die Identität des brasilianischen FußballsBild: Globo

Meist stehen nur die Top-Transfers von Ausnahmetalenten wie 2018 Vinicius Junior oder jetzt Endrick zu Real Madrid im Fokus. Doch mit vielen eher unbeachteten Spielerverkäufen verliert die brasilianische Liga kontinuierlich an Substanz und an Qualität sowohl in der Breite als auch in der Spitze. Zu vergleichen ist das mit der Ausbeutung von Rohstoffen. Nur dass es hier kein Kupfer, Erdöl oder Lithium ist, das sich die reichen Industrieländer abholen, sondern fußballerisches Talent.

"Es ist normal, dass sich brasilianische Spieler an den Stil des europäischen Fußballs anpassen, aber Brasilien hat damit nicht Schritt gehalten", sagt Grafite. Fußballer, die in Brasilien spielen, hätten eine anderen Rhythmus und eine andere Geschwindigkeit als jene, die in Europa im Einsatz seien, so der 44-Jährige. Dort habe das Spiel einfach eine andere Dynamik. Diese beiden Identitäten prallten dann bei einer Copa America oder einer WM innerhalb der Nationalmannschaft aufeinander und führten zu Abstimmungsproblemen, sagt Grafite: "Das konnte man bei der letzten WM recht gut beobachten." Beim Turnier in Katar Ende 2022 war Brasilien im Viertelfinale an Kroatien gescheitert. 

Erfolge der Premier League auf Kosten anderer

Die englische Premier League gilt derzeit weltweit als das Maß aller Dinge im Vereinsfußball. "Wie kann aber die Premier League die größte Liga der Welt sein, wenn England weder die besten Spieler hat noch eine Tradition vieler WM-Triumphe?", fragt Historiker Gomes und gibt die Antwort selbst: "Das funktioniert nur durch den Import von Spielern. Von Talenten aus Lateinamerika und Afrika. Und Brasilien ist eine der größten Fundgruben für diese Talente. Stellen Sie sich vor, wie stark eine brasilianische Fußballliga wäre, die heute Spieler hätte, die in England ihr Geld verdienen, wie Douglas Luiz, Lucas Paquetá, João Gomes, Bruno Guimarães, Richarlison - oder in anderen europäischen Ligen, wie Vinícius Junior oder Rodrygo."

Fußball-Historiker David "Dere" Gomes
Fußball-Historiker David "Dere" Gomes fordert ReformenBild: Tobias Käufer/DW

Es sei sehr schwierig, diese Entwicklung zu stoppen - vor allem, wenn es sich um einen globalen Markt handele, auf dem jedes Jahr Milliarden Euro bewegt würden, glaubt Dere Gomes: "Um in Brasilien eine starke Liga aufzubauen, wären ein gutes Vereinsmanagement und finanzielles Fairplay nötig. Außerdem etwas, das die Abhängigkeit der Vereine von großen Umsätzen verringert." Auch die Politik sei gefordert. "Wir brauchen eine Gesetzgebung, die die ausbildenden Vereine schützt."

Der Artikel wurde nach dem Spiel der Brasilianer in England aktualisiert.