China und Tibet - Eine Chronik
6. März 20097. bis 17. Jahrhundert: Reiterarmeen und religiöse Tauschgeschäfte
Als Beginn der chinesisch-tibetischen Beziehungen gilt meist die Hochzeit zwischen der chinesischen Prinzessin Wencheng und dem tibetischen Herrscher Songtsen Gampo im 7. Jahrhundert. China interpretiert diese Hochzeit als Beginn der chinesischen Herrschaft über Tibet, eine Ansicht, die international aber kaum geteilt wird. Versuche der Einflussnahme und Eroberung gibt es über die Jahrhunderte von beiden Seiten, einmal gelingt es den Tibetern sogar, die chinesische Hauptstadt Chang’an zu erobern. Oft kommt die Vorherrschaft der einen Seite unter Beteiligung der Mongolen zustande, die sich als eigentliche Militärmacht in Zentralasien herausbilden. Im 13. Jahrhundert erobern sie sowohl Tibet als auch China und errichten in Peking die Yuan-Dynastie – ein mongolisches Herrscherhaus, das das Land nach chinesischen Gepflogenheiten führt. Zum ersten Mal stehen Tibet, China und die Mongolei unter der einheitlichen Führung Pekings. Unter der darauffolgenden Ming-Dynastie (1368-1644), die China eine kulturelle Blüte, aber auch politische Isolation bringt, verliert Peking seinen Einfluss in Tibet vollständig.
Tibeter und Mongolen gehen im 16. Jahrhundert eine Allianz ein, die das Verhältnis zwischen beiden Völkern über Jahrhunderte prägt: Der Mongolenherrscher schließt sich dem tibetischen Buddhismus an, dafür akzeptiert Tibet die weltliche Macht der Mongolen. Es ist der Mongolenherrscher Altyn Khan, der dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter den Titel "Dalai Lama“ verleiht. "Dalai“ bedeutet Ozean und steht für die Tiefe und Universalität seiner Gelehrsamkeit. In Tibet setzt sich der Dalai Lama als oberste Autorität durch gegen rivalisierende Clans durch.
1644 -1911: Ausweitung des chinesischen Einflusses während der Qing-Dynastie
Im 18. Jahrhundert gelingt es China, seinen Einfluss in Tibet auszuweiten. Insbesondere die beiden starken Herrscher Kangxi und Qianlong können Tibet zeitweise militärisch unter ihre Kontrolle bringen, allerdings verliert Peking die Macht über Tibet auch immer wieder. Der chinesische Kaiserhof installiert einen Vertreter in Lhasa, den Amban. Zwischenzeitlich kann er ganz massiv in die tibetischen Regierungsgeschäfte eingreifen, zu anderen Zeiten hat er keinen Einfluss. Außerdem versucht Peking, ein neues Verfahren bei der Suche neuer Reinkarnationen des Dalai Lama durchzusetzen, und damit ganz direkt auf die Besetzung der höchsten tibetischen Autorität Einfluss zu nehmen. Im 19. Jahrhundert bröckelt der Einfluss Pekings. Nach dem verlorenen Opiumkrieg muss China zulassen, dass sich westliche Kolonialmächte in den Küstenstädten etablieren. Die Tibeter nutzen die Schwäche der Dynastie, um die Kontrolle der Chinesen weitgehend abzuschütteln – doch neue Begehrlichkeiten von Süden machen Lhasa Sorgen. Von Indien aus versuchen die Briten, Einfluss in Tibet zu gewinnen. Lhasa beruft sich auf die chinesische Oberherrschaft und spielt Peking und London so geschickt gegeneinander aus.
1912-1950: De-facto Unabhängigkeit
Ende 1911 stürzt die Qing-Dynastie. China wird eine Republik, die sich aber schnell in Machtkämpfen verliert. Die Tibeter nutzen die Gunst der Stunde, um ihre Unabhängigkeit zu erklären. Ein Versuch, den völkerrechtlichen Status Tibets zu definieren, scheitert 1914 im nordindischen Simla. Zwar einigen sich die drei Parteien in der Abschlusskonvention auf den Begriff der "Suzeränität“ Chinas über Tibet, der außenpolitischen Oberherrschaft bei vollständiger innerer Autonomie. Allerdings hat China diese Konvention nie ratifiziert. Für die tibetische Regierung unter dem charismatischen 13. Dalai Lama bedeutet das, dass sie einem de facto unabhängigen Staat vorsteht. Mit dem Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft, die teilweise nach archaischen Regeln leben, zu modernisieren, scheitert die Regierung allerdings. Ebenso versäumt sie es, internationale Beziehungen aufzubauen. Vier Automobile in der Garage des Dalai Lama sind die einzigen modernen Fortbewegungsmittel in ganz Tibet.
1950-59: Besetzung und Kooperation
Kurz nachdem die Kommunisten 1949 im chinesischen Kernland die Macht erobert haben, kündigen sie die "Befreiung“ Tibets an. 1950 überschreiten sie den Yangtse an der Grenze zu Tibet. Auf Widerstand durch die schwach ausgerüstete tibetische Armee treffen sie kaum. Unter Druck unterschreibt eine Delegation des Dalai Lama das sogenannte 17-Punkte-Abkommen. Darin erkennt Tibet die chinesische Herrschaft über Tibet an, und erhält dafür die Zusage einer vollständigen Autonomie. Das politische System Tibets soll nicht angetastet werden. Der 14. Dalai Lama, der seit 1950 im Amt ist, fügt sich nach anfänglichem Zögern in die neuen Verhältnisse. Der Dalai Lama bekennt später in seiner Autobiografie, eine "regelrechte Begeisterung für die Vereinigung Tibets und Chinas" entwickelt zu haben. Doch gegen Ende der fünfziger Jahre verschlechtert sich das Verhältnis schnell. Die Tibeter werfen China vor, sich nicht an die Zusagen zu halten. Gerüchte über eine geplante Entführung des Dalai Lama führen im März 1959 zu einem Volksaufstand, der brutal niedergeschlagen wird. Der Dalai Lama flieht nach Indien und China erklärt die tibetische Regierung für aufgelöst.
1959-1976: Maoismus und Kulturrevolution
Während sich der Dalai Lama und zehntausende Tibeter, die mit ihm geflohen sind, in Indien einrichten, steuert China und damit auch Tibet auf die Kulturrevolution zu. Die Unterstützer des Aufstands verschwinden zu Tausenden in Gefängnissen und Lagern, Grundbesitzer und Klöster wurden enteignet. Zwischen 1966 und 1976 beginnt in ganz China die Kulturrevolution, die die "Zerstörung des Alten“ zum Ziel hat. In Tibet werden religiöse Feste abgeschafft, das Besuchen von Tempeln, tibetische Sitten, wozu schon das Überreichen von Geschenken zählt, sind verboten, fast alle der 6000 Klöster und Tempel werden geplündert.
1976 bis heute: Siedlungspolitik, Entspannung und neue Spannungen
Auf die Kulturrevolution folgt eine kurze Phase der Entspannung. 1978 ruft Deng Xiaoping seine "Reform- und Öffnungspolitik“ aus.1980 bereist der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei Hu Yaobang Tibet und spricht offen über die Fehler der Vergangenheit. Die Tibeter können ihre Kultur nun wieder freier leben. Doch gegen Ende der achtziger Jahre verschlechtert sich das Verhältnis wieder. Zum dreißigsten Jahrestag der Flucht des Dalai Lama kommt es in Lhasa erneut zu Protesten, die abermals brutal niedergeschlagen werden. Gleichzeitig fördert Peking seit Ende der siebziger Jahre die Ansiedlung von Han-Chinesen in Tibet. Unter der Oberfläche einer mit massiver Militärpräsenz erzwungenen Ruhe entstehen Spannungen zwischen den Volksgruppen, die 2008 im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking explodieren. Abermals zum Jahrestag des Aufstands von 1959 kommt es im gesamten tibetischen Siedlungsgebiet zu Protesten, die sich nun auch in Übergriffen gegen han-chinesische Siedler äußern.