Chiracs Mehrheit ist künstlich
6. Mai 2002Frankreich atmet auf. Nicht die Wiederwahl von Jacques Chirac zum Staatspräsidenten ist die wichtigste Meldung des 5. Mai 2002, sondern die Niederlage seines rechtsextremen Rivalen Jean-Marie Le Pen. Noch nie war die Wahl eines französischen Staatspräsidenten so eindeutig. Gleichzeitig waren Umfrageinstitute vor der Wahl ungewöhnlich vorsichtig mit ihren Prognosen. Die Niederlage Le Pens hatte man zwar erwartet, aber die Angst vor einem schwachen Ergebnis Chiracs war groß.
Das Land ist ein Rätsel. Auch Jacques Chirac ist ein Rätsel: Allen Versuchungen, parlamentarische Mehrheiten mit Hilfe von Le Pen zu erreichen, konnte er in der Vergangenheit widerstehen. Er war zum Feind der Rechtsradikalen geworden. Trotzdem warfen ihm die Sozialisten und Kommunisten vor, einen Wahlkampf mit Themen von Le Pen geführt und hiermit seinen sozialistischen Rivalen Lionel Jospin geschwächt zu haben.
Warum die überwältigende Mehrheit der Wähler dennoch für Jacques Chirac gestimmt hat, ist klar: Weil es nicht anders ging. Die Angst vor einem Jean-Marie Le Pen im Elysée-Palast war größer als die Kritik an dem konservativen Chirac. Der wieder gewählte Präsident weiß wohl, dass sein historisches Rekordergebnis künstlich ist und nur eins bedeutet: Dass das Wahlvolk in einem plötzlichen Elan von moralischer Solidarität seine Aversion gegen den Rechtsextremismus geäußert hat. Diese Botschaft war – vor allem für das Ausland – dringend notwendig. Aber Frankreich hat am Sonntag nicht gewählt, sondern abgewählt. Es war keine Stichwahl für einen Kandidaten, es war eine Volksabstimmung gegen eine Gefahr. Es ging um die Werte der Republik, um die Existenz der Demokratie, um die Rettung der Toleranz. Es ging nicht um das Wahlprogramm des Neo-Gaullisten Jacques Chirac.
Die Antwort der französischen Wähler auf Le Pen ist klar: Rechtsextremismus ist keine Lösung für die Probleme Frankreichs. Aber wo ist die Lösung? Möglicherweise werden die Parlamentswahlen in fünf Wochen, der dritte Wahlgang in diesem Jahr, die politische Krise noch verschärfen. Denn eine Frage bleibt nach wie vor unbeantwortet: Ist die rechtsradikale Drohung ein launischer Wutausbruch von Protestwählern gewesen - oder ist sie eine feste Größe in der politischen Landschaft? In der Rolle des "Spielverderbers" fühlt sich Jean-Marie Le Pen immer noch am wohlsten.