"Widerstand braucht Führung"
1. August 2012Deutsche Welle: Frau Zein, derzeit zeigt sich, dass nicht nur säkulare Zivilisten und Deserteure, sondern auch religiöse Extremisten gegen Assad kämpfen. Für die Zukunft des Landes verheißt das nichts Gutes. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die Gewalt auch nach einer Abdankung Assads weitergeht?
Huda Zein: Ich halte die Gefahr für ausgesprochen hoch. Das liegt nicht allein an den Syrern, sondern auch daran, dass viel regionale und internationale Akteure in dem Land aktiv sind. Wir wissen, dass die unter dem Schirm der "Freien Syrischen Armee" agierenden Truppen zersplittert sind und unter keinem zentralen Kommando stehen. Viele Kämpfer agieren auf eigene Faust, ohne Verbindung zu unbewaffneten oppositionellen Gruppen. Das ist natürlich ein Problem. Denn es ist gefährlich, wenn der militärische Arm des Aufstands politisch nicht gesteuert wird. Für die Zeit nach dem Sturz des Regimes könnte das bedeuten, dass die Gewalt zunimmt.
Das heißt, von einer einheitlichen Front gegen Assad kann man gar nicht mehr sprechen?
Nein. Die Lage ist ausgesprochen kompliziert. Einerseits gibt es natürlich Deserteure, die die reguläre syrische Armee verlassen haben, weil sie nicht auf die Bevölkerung schießen wollen. Ebenso gehören zu ihr Zivilisten, die ihre Familien und sich selbst verteidigen. Diese beiden Gruppen agieren ganz unabhängig und ohne Lenkung von außen. Ihnen geht es darum, sich von dem Regime Assads zu befreien. Andererseits gibt es aber auch Gruppierungen, die die Situation für ihre eigenen Interessen zu nutzen versuchen. Das hat sehr stark auch mit der geostrategischen Lage Syriens zu tun. Durch sie ist Syrien zum Schauplatz regionaler und internationaler Interessen geworden.
An wessen Interessen denken Sie?
An Saudi-Arabiens zum Beispiel. Das Land instrumentalisiert die Lage in Syrien. Es schürt die Gewalt dort ganz bewusst, um das schiitisch-alawitische Assad-Regime zu stürzen. Eigentlich geht es hier um den Konflikt mit dem Iran, der in Syrien ausgetragen wird. Auch der Konflikt zwischen Russland und den USA spielt in die Lage in Syrien hinein. Ebenso gibt es salafistische Gruppierungen, die über die Grenze kommen. Auch sie werden teils von Saudi-Arabien und Katar und anderen Ländern unterstützt.
Kann man denn sagen, dass der Krieg auch entlang konfessioneller Linien verläuft?
Leider ja. Bislang steht diese Entwicklung zwar noch am Anfang, und allzu viele Fälle konfessioneller Gewalt hat es noch nicht gegeben. Doch viele Syrer fürchten, dass die Entwicklung in Richtung eines konfessionellen Bürgerkriegs führt. Eigentlich ist die multikonfessionelle und multiethnische Fragmentierung Syriens ja sehr schön. Kulturell ist die syrische Gesellschaft überaus reich. Doch das Regime geht mit größter Brutalität gegen die Bevölkerung vor und provoziert sie sehr bewusst. Dadurch verleitet sie die Opposition zu Rache und Vergeltung entlang konfessioneller Linien. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bevölkerung sich in diesem Sinn verführen lässt. Davor haben die politischen Oppositionsgruppen immer wieder gewarnt. Denn sie wissen, dass das Regime genau das beabsichtigt. Denn Assad kann nur überleben, wenn die Gesellschaft sich teilt und in einen Bürgerkrieg treiben lässt.
Derzeit sind die meisten Syrer großer Gefahr ausgesetzt, müssen um Leib und Leben fürchten. Sind sie in einer solchen Lage denn überhaupt fähig, die Strategie der Regierung zu durchschauen?
In der Tat handelt es sich hier nicht nur um eine Frage des Wollens oder des Bewusstseins. Derzeit ist die Stimmung in Syrien hochgradig aufgeladen, so dass sich kaum sagen lässt, was in den nächsten Tagen passieren wird. Umso mehr kommt es darauf an, dass die Opposition auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene arbeitet. Sie muss eine Strategie entwickeln, die eine solche Entwicklung verhindert. Bislang ist die syrische Opposition dieser Verantwortung noch nicht sonderlich überzeugend gerecht geworden. Doch auch die Internationale Gemeinschaft hätte in dieser Hinsicht viel vorbeugende Maßnahmen treffen können. Das aber hat sie nicht getan. Umso mehr sind die Syrer jetzt auf zivilgesellschaftliche Gruppen angewiesen, die sie vor einem Bürgerkrieg bewahren können.
Was sehen Sie als die derzeit dringlichsten Aufgaben der Opposition an?
Beide Oppositionsgruppen - die bewaffnete und die unbewaffnete - sollten sich an einen Tisch setzen und ein einheitliches Programm entwerfen. Dann könnten sie auch Einfluss auf die internationalen Kräfte in Syrien nehmen. Dann könnten sie vielleicht auch die Internationale Gemeinschaft zu größerer Unterstützung bewegen. Wichtig ist aber, dass der politische Teil der Opposition die Führung über die bewaffneten Gruppen übernimmt. Denn der Konflikt kann nur dann auf friedliche Weise gelöst werden, wenn die bewaffneten Gruppen in die politische Opposition integriert sind und von dieser ihre Befehle erhalten.
Dr. Huda Zein ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am "Centrum Naher und Mittlerer Osten" der Universität Marburg. Sie ist außerdem Mitglied im Führungsrat des NCC, des Nationalen Koordinationskomittees.