Deutsch-Deutscher Menschenhandel
8. August 2012Der Deal war politisch hochbrisant, Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich musste ihm zustimmen. Unter absoluter Geheimhaltung wurden am 2. Oktober 1963 die ersten acht DDR-Häftlinge in die Freiheit entlassen. In einem Bus überquerten sie den innerdeutschen Grenzkontrollpunkt Wartha-Herleshausen. Das kommunistische Regime kassierte exakt 205.000 D-Mark für die menschliche Fracht, der viele hundert folgten. Diesem Kapitel der deutschen Teilung ist jetzt erstmals eine monothematische Ausstellung gewidmet. "Freigekauft – Wege aus der DDR-Haft" ist bis Ende März 2013 in der Berliner Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde zu sehen.
Geschildert werden sechs Schicksale von Einzelpersonen und Familien, die aus politischen Gründen eingesperrt wurden. Darunter die Familie Kolbe aus Dresden, die im Oktober 1973 über den Umweg Tschechoslowakei nach Österreich in die Freiheit gelangen wollte. Der Versuch scheiterte, die Eltern landeten im Zuchthaus. Im Mai 1975 wurden sie freigekauft, mussten aber noch vier Monate warten, bis sie im Westen ihre beiden Söhne wieder in die Arme schließen konnten. Wie sie die Zeit zwischen Hoffen und Bangen überstanden haben, können die Besucher der Ausstellung anhand von Video-Interviews erfahren.
Anwälte verhandelten über Häftlinge
Die Öffentlichkeit auf beiden Seiten der Grenze sollte nichts über den staatlichen Menschenhandel erfahren. Deswegen wurden die freigekauften Häftlinge zur Verschwiegenheit verpflichtet. Natürlich gab es immer wieder Gerüchte, aber keine offiziellen Bestätigungen. Hinter den Kulissen zogen die Rechtsanwälte Wolfgang Vogel (Ost) und Jürgen Stange (West) die Fäden. Ihre jahrelange Korrespondenz ist in der Erinnerungsstätte Aufnahmelager Marienfelde auszugsweise dokumentiert. Man kann die Texte lesen, sie wurden aber auch professionell eingesprochen und können angehört werden.
Die Wortwahl ist nüchtern, wie in Geschäftsbriefen üblich. Beklemmend wirken sie deshalb, weil sich hinter den Zeilen menschliche Schicksale verbergen. "Die übergebene Liste befindet sich im Stadium der Überprüfung. Zahlenmäßig ist eine Festlegung noch nicht möglich", schreibt Vogel am 20. August 1973 an seinen Kollegen Stange. Sätze wie diese bedeuteten nichts anderes, als dass über DDR-Häftlinge gefeilscht wurde. Dabei spielten Kriterien wie Familienverhältnisse, Gesundheitszustand und Beruf eine wichtige Rolle, erläutert die Leiterin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Bettina Effner. "Ärzte und Ingenieure waren wertvoller", bringt sie die kalte Logik des DDR-Regimes auf den Punkt.
Renate Werwigk landete zweimal im Knast
Für inhaftierte Fachkräfte, die in der DDR dringend gebraucht wurden, war es also meistens schwieriger, auf die Liste zu gelangen. Diese Erfahrung machte auch die aus der Nähe von Berlin stammende Ärztin Renate Werwigk. Sie wollte 1963 ihrem schon vorher geflüchteten Bruder durch einen von Fluchthelfern gegrabenen Tunnel in den Westen folgen. Der Staatssicherheitsdienst (Stasi) bekam Wind von der Sache. Renate Werwigk und ihre Eltern wurden zu teilweise mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
Nach ihrer Entlassung nahm die junge Frau Kontakt zu Anwalt Vogel auf. Der habe ihr zunächst keine Hoffnung auf eine Ausreise in den Westen gemacht, erzählt Renate Werwigk im Gespräch mit der Deutschen Welle. Schließlich habe Vogel durchblicken lassen, dass sie es auf eine erneute Verhaftung ankommen lassen solle. Nachdem der Versuch scheiterte, mit einem gefälschten Pass von Bulgarien in die Türkei zu reisen, wurde die Ärztin 1967 ein weiteres Mal zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Ein Jahr später wurde sie im Austausch gegen einen DDR-Spion und 100.000 D-Mark in den Westen abgeschoben.
Die Evangelische Kirche half bei der Abwicklung
Um auch nur den Anschein des staatlichen Menschenhandels zu vermeiden, beauftragte die Bundesregierung das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche mit der finanziellen Abwicklung des Freikaufs von DDR-Häftlingen. Diese Tarnung bot sich an, weil die westdeutsche Kirche schon seit 1957 Gemeinden in Ost-Berlin materiell unterstützte. Auf politischer Ebene war im Westen das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen zuständig, das ab 1969 Ministerium für Innerdeutsche Angelegenheiten hieß. Große Verdienste um den Freikauf von politischen Häftlingen machte sich von Anfang an der Jurist Ludwig Rehlinger. Über seine Erfahrungen als Unterhändler berichtet der gebürtige Berliner in einem ausführlichen Video-Interview, das in der Ausstellung gezeigt wird.
Bis zum Mauerfall 1989 landeten rund 87.000 DDR-Bürger hinter Gittern, weil sie flüchten wollten oder in den Augen der Ost-Berliner Machthaber aus anderen Gründen als politisch "unzuverlässig" galten. Knapp 34.000 dieser "Feinde des Sozialismus", die sie nach DDR-Lesart waren, kaufte der Westen frei. Nur die erste Busladung 1963 wurde bar bezahlt, danach wurde es ein Tauschgeschäft: Menschen gegen Waren. Je nachdem, was in der chronischen DDR-Mangelwirtschaft gerade fehlte, lieferte die Bundesrepublik Lebensmittel oder Erdöl. Aber auch Diamanten wanderten von West nach Ost.
"Sie sind jetzt Bundesbürger"
Man könne das Freikaufen von Häftlingen als eine "Art der Devisenbeschaffung" bezeichnen, meint Ausstellungskuratorin Lucia Halder zutreffend. Waren im Wert von mehr als drei Milliarden Mark landeten so in der maroden DDR. Das war der Preis für die Freiheit von Ostdeutschen, deren erste Anlaufstelle im Westen die "Bundesaufnahmestelle" im hessischen Gießen war. Deren Leiter war Heinz Dörr. Die Neuankömmlinge aus dem anderen Teil Deutschlands begrüßte er mit den Worten: "Meine Damen und Herren, Sie sind jetzt Bundesbürger."