Berlins Ziel: ein europäischer Bundesstaat
25. Januar 2022Die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP haben sich vorgenommen, die Europäische Union zu einem "föderalen europäischen Bundesstaat" weiterzuentwickeln. Für die heutige Zeit ein ungeheuer ehrgeiziges Ziel. Keine andere europäische Regierung wagt sich derzeit so weit vor wie es Deutschland im Koalitionsvertrag auf Seite 131 festgeschrieben hat.
Dabei haben hochfliegende Visionen von der Zukunft der Europäischen Union Tradition. Schon in den Römischen Verträgen von 1957 ist vom "festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen" die Rede. Eine "immer engere Union" fordert auch der Vertrag von Lissabon von 2009. Jacques Delors, Kommissionspräsident von 1985 bis 1995, glaubte, Europa müsse sich wie in Fahrrad immer weiter Richtung Integration bewegen. "Hält man es an, fällt es um."
Solche vollmundigen Bekenntnisse hört man heute kaum noch. Der Austritt Großbritanniens vor zwei Jahren war im Gegenteil die bisher stärkste Absage an die Idee von immer mehr Gemeinsamkeit.
Abschied von großen Visionen
Die Briten galten zwar schon immer als besonders europaskeptisch. Aber im März 2018 sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in Berlin: "Es gibt dieses Narrativ von der Unvermeidlichkeit engerer Zusammenarbeit in einem europäischen Bundesstaat. Ich mag diese schreckliche Sprache von der immer engeren Union nicht." Rutte sprach von einer romantischen Vision einer politischen Union, mit der er nichts zu tun haben wollte.
Selbst der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte 2016 bei einem europäischen Wirtschaftstreffen: "Es ist keine passende Antwort auf unsere Probleme, die schwärmerischen und tatsächlich naiven euroenthusiastischen Visionen einer totalen Integration zu forcieren, mögen es ihre Fürsprecher auch noch so gut meinen. Erstens, weil das schlicht unmöglich ist, und zweitens, weil das Werben dafür paradoxerweise nur dazu führt, euroskeptische Stimmungen zu verstärken, nicht nur im Vereinigten Königreich."
Ausgerechnet die früher als besonders europafreundlich geltenden Niederländer und Franzosen hatten schon 2005 in Volksabstimmungen eine europäische Verfassung abgelehnt. Sie gaben damit zu verstehen, dass immer mehr Integration nicht oder nicht mehr dem Willen einer Mehrheit in ihren Ländern entsprach. Eine Reihe von Regierungen unter rechtspopulistischen Parteien oder mit deren Beteiligung, zum Beispiel in Ungarn und Polen, haben der Idee ebenfalls eine Absage erteilt.
Den Bundesstaat "will eigentlich niemand"
Mutig also, wenn im gegenwärtigen Klima die Berliner Ampelkoalition ausdrücklich einen europäischen Bundesstaat anstrebt. Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle kommt allerdings gegenüber der DW zu dem Schluss: "Falls die die Regierung tragenden Parteien tatsächlich daran glauben sollten, wird das schnell an den europapolitischen Realitäten scheitern. Eigentlich niemand in Europa will das."
Es war vor allem das Brexit-Votum, das den Juristen Daniel Röder dazu gebracht hat, die Bürgerinitiative Pulse of Europe zu gründen. Der "Puls" Europas will der europäischen Idee neuen Auftrieb geben, nicht durch Politiker und Funktionäre, sondern getragen von ganz normalen Bürgern. Ihn habe das Ziel des europäischen Bundesstaates im Koalitionsvertrag "überrascht", so Röder gegenüber der Deutschen Welle.
Niemand muss ihn vom Sinn weiterer Integration überzeugen. "Wenn man erkennt, dass wir die großen Themen – Klimawandel, Migration, Pandemien, der Konflikt mit Russland etc. – nicht als einzelne Nationalstaaten lösen können und nicht alles China oder den USA überlassen möchten, braucht es eine weitere europäische Integration." Ein europäischer Bundesstaat ist für ihn aber "kein zwingendes Ziel".
Europäisch oder national je nach Thema
Es kommt wohl auf das Thema an, ob weitere Integration gewünscht wird. In einigen Bereichen hat sich die EU nämlich durchaus schon sehr Richtung Bundesstaat bewegt, etwa durch den gemeinsamen Binnenmarkt oder beim Außenhandel. In anderen Bereichen haben die Staaten jedoch ihre Souveränität nicht aufgegeben, sondern sind allenfalls zur gegenseitigen Abstimmung und Zusammenarbeit bereit.
Bei der Corona-Bekämpfung wurde das wieder sehr deutlich: Gesundheitspolitik ist Sache der Einzelstaaten, was manche beklagt, andere begrüßt haben. Andererseits hat die EU einen riesigen gemeinsamen Hilfsfonds aufgelegt, mit denen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Einschränkungen gelindert werden sollen.
Der Fonds zeigt gleichzeitig, wie strittig gemeinsame Projekte sein können. Vor allem wenn es ums Geld geht, wird die Frage gestellt: Wer zahlt, wer profitiert? Regelmäßig taucht in den reichen EU-Staaten das Schreckgespenst einer Transferunion, also ihre finanzielle Unterstützung für ärmere Länder, auf. Allein schon das hat bisher noch jede Idee eines europäischen Bundesstaates im Keim erstickt.
Ein Henne-Ei-Problem
Johannes Varwick erkennt bei aller Skepsis gegenüber der Bundesstaatsidee an, es sei "richtig, nicht jede Vision aufzugeben." Daniel Röder von Pulse of Europe dagegen braucht nicht unbedingt das Fernziel europäischer Bundesstaat. Aber er ist überzeugt, dass es ohne Weiterentwicklung nicht geht.
Röder hält die EU derzeit für "ein fragiles und nur bedingt handlungsfähiges Konstrukt. Nur dann, wenn sie effektiver mitgestalten kann im globalen Spiel der Kräfte, wird die Akzeptanz nach innen und außen steigen." Und das sei ein typisches "Henne-Ei-Problem": "Ohne Akzeptanz keine Weiterentwicklung, ohne Weiterentwicklung keine Akzeptanz. Dieses Dilemma müssen wir überwinden, sonst befürchte ich Schlimmes für die Union."