Ferhad Ahma: "Syrer wollen Wandel"
16. März 2012Deutsche Welle: Herr Ahma, die syrischen Bürger demonstrieren seit einem Jahr gegen die Regierung von Baschar al-Assad. Der Blutzoll, den sie in dieser Zeit gezahlt haben, ist furchtbar hoch. Können Sie trotzdem - zumindest in Teilen - auch eine positive Bilanz ziehen?
Ferhad Ahma: Ja, durchaus. Zunächst einmal geht die Revolution trotz der brutalen Reaktion des Regimes weiter. Tag für Tag finden in Syrien landesweit rund sechshundert verschiedene Protestkundgebungen statt. Die Menschen protestieren nicht nur in Homs, Itlib oder den anderen Brennpunkten, sondern auch in vielen anderen Teilen des Landes. Tausende gehen jeden Tag auf die Straße, und es werden immer mehr. Außerdem praktizieren die Bürger auch andere Formen des Protestes, etwa Streiks und Arbeitsniederlegungen. All dies zeigt, dass die syrische Bevölkerung entschlossen ist, nach 50 Jahren Diktatur nun endlich einen demokratischen Wandel herbeizuführen. Dafür ist sie bereit, einen hohen Preis zu zahlen.
Kann man also von der Entwicklung eines zivilgesellschaftlichebn Bewusstseins sprechen?
Auf jeden Fall! Koordinierungsgruppen organisieren landesweit friedliche Proteste, parallel zu den Aktivitäten der Freien Syrischen Armee. Diese Gruppen haben in weiten Teilen des Landes schon Verwaltungs- und zivilgesellschaftliche Aufgaben übernommen, für die normalerweise der Staat zuständig ist. Der aber hat sich mittlerweile aus einigen Regionen komplett zurückgezogen. In manchen Gebieten gibt es inzwischen keine staatlichen Institutionen mehr. Deshalb kümmern sich die Koordinierungsgruppen derzeit um die unterschiedlichsten Aufgaben, vom provisorischen Unterricht für die Kinder bis hin zur Müllabfuhr. Zudem versuchen sie die Konflikte zu entschärfen, die in dieser angespannten Situation immer wieder entstehen. Sie üben eine Gesprächskultur ein, in der Probleme durch Diskussionen gelöst werden. Für mich ist das ein ermutigendes Zeichen, denn es zeigt, dass die Menschen trotz der langen Jahre der Diktatur in der Lage sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und für ihre Gemeinden Verantwortung zu übernehmen.
Deutsche Welle: Warum zieht sich der Staat aus manchen Gebieten zurück?
Er spielt seine Macht aus. Im Grunde handelt es sich um eine Art Kollektivstrafe. Natürlich ist der Staat weiterhin in der Lage, sich militärisch durchzusetzen. Er könnte auch die zivilen Aufgaben weiterhin wahrnehmen. Aber er verweigert sie. So haben die Bürger in manchen Regionen bis zu achtzehn Stunden keinen Strom oder erhalten nur jeden vierten Tag Trinkwasser. All dies geschieht auf Anweisung aus Damaskus. Das soll die Menschen davon abhalten, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Wenn sich die Bürger darüber beschweren, antworten ihnen die Behörden, dies sei die Freiheit, die sie wollten. Wenn sie Freiheit verlangten, müssten sie auch mit den Konsequenzen leben – und der Ausfall von Wasser und Strom sei Teil dieser Konsequenzen.
Deutsche Welle: Zuletzt wurde viel über die Rolle der Minderheiten und ihre Haltung zu Assad spekuliert. Wie sehen Sie die politische Ausrichtung der Minderheiten.
Als kurdischstämmiger Syrer gehöre ich ebenfalls zu einer dieser Minderheiten. Von ihnen gibt es in Syrien eine ganze Reihe. Generell muss man sagen, dass die meisten Syrer ganz unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit einen demokratischen Wechsel wünschen und für notwendig erachten. Gleichzeitig bestehen die Minderheiten natürlich darauf, dass ihre Rechte im künftigen Syrien klar definiert werden. Die Minderheiten sind in dieser Hinsicht durchaus zu Recht besorgt. Denn sie sehen, dass in manchen Nachbarländern, etwa dem Irak oder der Türkei, der Umgang mit den zahlenmäßig kleinen Gruppen alles anderes als optimal ist.
Deutsche Welle: Sie selbst sind im Hinblick auf die Zukunft aber durchaus optimistisch?
Ja. Ich glaube dass wir als syrische Opposition auf einem guten Weg zu einem Konsens sind. Es finden jetzt auch Verhandlungen mit den Vertretern der Minderheiten statt. Dabei geht es darum, die Rechte der Minderheiten in der Verfassung – und nicht nur in einfachen Gesetzen – zu verankern. Die Verfassung soll ihre Rechte dann in Zukunft garantieren.
Deutsche Welle: Einige arabische Länder, vor allem Saudi Arabien, fordern die Bewaffnung der Freien Syrischen Armee. Wie stehen Sie dazu?
Nach der Mission von Kofi Annan haben wir vom Regime in Damaskus keine Signale vernommen, die darauf schließen lassen, dass es an einer politischen Lösung interessiert wäre. Herr Annan hat zwar noch nicht endgültig gesagt, dass er gescheitert ist, aber seine jüngsten Äußerungen deuten darauf hin, dass er über die Antworten aus Damaskus nicht glücklich ist. Derzeit wartet er auf ergänzende Reaktionen. Das aber drängt die syrische Opposition, sich für andere Optionen zu entscheiden, und zwar in Richtung einer Militarisierung des Konfliktes. Dazu stellen sich natürlich Detailfragen: Wollen wir eine internationale militärische Intervention, oder sollen die Syrer das Ganze selbst in die Hand nehmen? Zu bedenken ist dabei, dass die Bürger schwach sind und nur auf die 'Freie Syrische Armee' zählen können. Doch die Bevölkerung in den Krisenregionen, in Homs und Itlib etwa, ruft immer lauter nach einer militärischen Lösung. Das kann die syrische Opposition nicht einfach ignorieren. Man kann angesichts eines Regimes, dass alle Vorschläge ablehnt, nicht auf eine friedliche oder politische Lösung setzen.
Deutsche Welle: Was heißt das konkret?
Der syrische Nationalrat hat entschieden, zunächst die endgültigen Ergebnisse der Mission von Kofi Annan abzuwarten. Sollte diese Mission scheitern, wird sich die syrische Opposition für die Bewaffnung der 'Freien Syrischen Armee' aussprechen und diese auch unzusetzen versuchen. So soll die Zivilbevölkerung zumindest punktuell geschützt werden. Das ist unsere derzeitige Position.
Deutsche Welle: Gesetzt den Fall, Assad würde doch noch signalisieren, dass er zu Zugeständnissen bereit ist - wie würden Sie reagieren?
Grundsätzlich sind wir misstrauisch. Wir wollen klare Schritte sehen. Der erste Schritt wäre, wenn Assad jetzt zurücktritt und die Macht an seinen Vize übergibt oder an eine andere Person, die das Vertrauen der Opposition genießt. Das wäre die Grundlage für einen neuen politischen Prozess. Damit blieben dem Land weitere grausame Szenarien erspart.
Ferhad Ahma ist Kommunalpolitiker für Bündnis 90/ Die Grünen in Berlin und Mitglied des Syrischen Nationalrats in Deutschland.
Das Interview führte Kersten Knipp.