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Europarat: Neujustierung in Island?

16. Mai 2023

In Reykjavik treffen sich die Staats- und Regierungschefs des Europarats, um über dessen Zukunft zu beraten. Themen gibt es genug. Aber der Europarat kämpft nicht nur mit seiner mangelnden Bekanntheit.

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Parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg
Viele leere Plätze in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg - ob das beim Gipfel in Reykjavik erneut der Fall sein wird?Bild: Dominique Boutin/Sputnik/picture alliance

Oft tritt er als Mahner in Erscheinung, prangert etwa unzureichende Korruptionsbekämpfung in Deutschland an, pocht auf die Einhaltung der Menschenrechte und kritisiert Pushbacks an den europäischen Außengrenzen: der Europarat. Nein, nicht der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs in Brüssel, sondern der Europarat in Straßburg. Er ist die älteste Organisation europäischer Staaten und wird häufig mit seinem Namensvetter verwechselt. Vielleicht ist er daran ein wenig selbst schuld. Schließlich hat er 1986 der EU gestattet, seine Flagge zu verwenden. Dabei ist er selbst gar keine EU-Institution. Gegründet wurde der Europarat bereits 1949 unter den Eindrücken des Zweiten Weltkrieges und somit deutlich vor der damaligen "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG), dem Vorläufer der heutigen EU. Unter seinen Gründervätern waren der britische Premier Winston Churchill und der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer.

Europarat - wichtig, aber kaum bekannt

Seit jeher setzt sich der Europarat für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Seine Instrumente: Mehr als 200 internationale Verträge, Konventionen, Experten-Gruppen, eine parlamentarische Versammlung und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Seine Mitglieder: 46 europäische Staaten. Eine seiner größten Errungenschaften: die Errichtung einer Zone ohne Todesstrafe für rund 700 Millionen Menschen.

Klaus Brummer - Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
"Jeder braucht ihn, keiner kennt ihn", sagt Politikwissenschaftler Klaus Brummer über den EuroparatBild: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Und dennoch: "Jeder braucht ihn, aber keiner kennt ihn", sagt der Politikwissenschaftler Klaus Brummer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. In einer Umfrage im Auftrag der Europäischen Bewegung Deutschland Anfang Mai wussten nur fünf Prozent der Befragten, dass am 16. und 17. Mai ein Europarats-Gipfel in Reykjavik stattfinden soll.

Der Bundestagsabgeordnete Volker Ullrich findet, dass der Europarat nicht die Aufmerksamkeit bekomme, die er verdiene. Der CSU-Politiker ist Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates, in welcher 306 Abgeordnete aus den Mitgliedstaaten sitzen. Sie wählen wichtiges Personal im Europarat in ihr Amt, beobachten Wahlen und prüfen aktuelle Fragen. 

Ukraine soll Hauptthema des Gipfels sein

Unter dem isländischen Europarats-Vorsitz sind die 46 Staats- und Regierungschefs zum vierten Gipfel in seinem 74-jährigen Bestehen eingeladen. Klaus Brummer fürchtet jedoch, dass einige der Staats- und Regierungschefs den Weg nach Reykjavik gar nicht erst auf sich nehmen werden. Dabei gäbe es durchaus einiges zu besprechen. 

Frankreich l Ukraine Krieg l Ukrainische Demonstrantin in Versailles, Free Ukraine
Wie der Europarat die Ukraine unterstützen kann, soll eines der Themen des Europarats-Gipfels sein. Bild: Michel Euler/AP/picture alliance

Zentraler Punkt soll die Unterstützung der Ukraine sein. Im Vorfeld hieß es aus dem Europarat, dass eine Art Register für zukünftige Klagen aus der Ukraine erstellen werden soll. Auch solle sich der Gipfel mit der Frage des Verbleibes verschwundener ukrainischer Kinder beschäftigen. Europarats-Experte Brummer erwartet vom Gipfel vor allem Symbolik und eine Bestätigung europäischer Werte. Denn "was das Praktische anbelangt, die Ukraine beim Aufbau oder gar militärisch zu unterstützen, da hat der Europarat keinerlei Kompetenzen oder Befugnis," so Brummer im Gespräch mit der DW.

Russland ist raus

Die Mitgliedstaaten des Europarates sind auch Mitglieder der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wenn Bürger und Bürgerinnen sich durch die Staaten in ihren Rechten verletzt sehen, können sie vor den Straßburger Gerichtshof ziehen. Ende März waren nach Angaben des Gerichts noch knapp 16.000 Fälle aus Russland anhängig- rund ein Fünftel aller Fälle, über die der Gerichtshof noch entscheiden muss. Auch der oppositionelle Politiker Alexej Nawalny hatte in der Vergangenheit den EGMR angerufen und Recht bekommen. Nur: Russland istwegen des Angriffes auf die Ukraine seit März 2022 kein Mitglied des Europarates mehr.Zahlreiche bereits verhängte Urteile gegen Russland dürften jetzt nicht mehr umgesetzt werden, obwohl Moskau rechtlich dazu verpflichtet wäre.

Volker Ullrich hält den Austritt Moskaus für richtig, wenn auch der Wegfall des Schutzes durch den EGMR für die 130 Millionen Bürger und Bürgerinnen in Russland ein "Wermutstropfen" sei. Allerdings reißt der russische Austritt ein Loch in das Budget der Institution. Im Jahr 2022 betrug der Etat des Europarates 477 Millionen Euro. Russlands Beitrag machte dabei etwas mehr als 34 Millionen Euro aus und lag damit bei rund 7 Prozent des Gesamthaushaltes. Schon vor seinem Austritt hatte Moskau jedoch seine Zahlungen eingestellt. Noch ist unklar, wie die Finanzierungslücke geschlossen werden soll.

Alexei Navalny | russischer Oppositioneller
Auch Kreml-Kritiker Alexej Nawalny hatte vor dem EGMR Recht bekommen (Archivbild). Bild: Sefa Karacan/AA/picture alliance

Ausstehende Lehren und Herausforderungen

Doch welche Auswirkungen hat das russische Ausscheren für die übrigen Mitgliedsländer? "Da gibt es ja eine ganze Reihe von Staaten, die durchaus systematische Probleme haben, Demokratie und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit einzuhalten," gibt Brummer zu Bedenken.

Die Notwendigkeit einer stärkeren Implementierung dieser Grundprinzipien in Staaten, die sich noch in einem Transformationsprozess befinden, sieht auch Ullrich gegeben. "Der Europarat war in den vergangenen Jahren immer auch gedacht für Staaten, die sich der EU annähern möchten. Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass der Europarat bei diesem Thema selbstbewusst Flagge zeigt," so der Abgeordnete im Gespräch mit der DW. 

Konkurrenzveranstaltung in Chisinau?

Mögliche Konkurrenz kommt auch noch aus anderer Richtung: Nur zwei Wochen nach dem Treffen in Reykjavik sollen sich 44 der 46 die Staats- und Regierungschefs erneut treffen. Diesmal in Form der "Politischen Gemeinschaft" in der moldauischen Hauptstadt Chisinau. Dieses Format hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ins Leben gerufen - mit dem Ziel, die politische Zusammenarbeit, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand auf dem Kontinent zu stärken. Brummer sieht die Einrichtung kritisch und hält sie im Lichte des Europarates eigentlich für überflüssig. Auch Volker Ullrich sieht noch großen Klärungsbedarf für das Verhältnis der beiden Formate zueinander. 

Viele ungelöste Fragen, wenig mediale Beachtung und jetzt auch noch eine Parallelveranstaltung: Die isländische Gastgeberin, Ministerpräsidentin Katrin Jonasdottir, sagte schon im Januar, es sei wichtig, eine Vision für die Zukunft des Europarates zu formulieren. Die Staats- und Regierungschefs haben nun die Möglichkeit dazu - wenn sie denn kommen.

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel