Lagarde ruft EU zum Handeln auf
22. November 2019Die Euro-Zone muss aus Sicht von EZB-Präsidentin Christine Lagarde die Binnennachfrage deutlich stärken, um die zunehmenden ökonomischen Unsicherheiten in der Welt zu bewältigen. Die weltweit zweitgrößte Wirtschaftszone müsse offen sein und Vertrauen in sich selbst haben, sagte Lagarde am Freitag auf einem Bankenkongress in Frankfurt.
Das Potenzial, um eine stärkere Binnennachfrage und langfristiges Wachstum zu schaffen, müsse ausgeschöpft werden. Dazu könnten auch die Währungshüter beitragen. "Die Geldpolitik wird weiterhin die Wirtschaft unterstützen und auf zukünftige Risiken reagieren im Einklang mit unserem Mandat für Preisstabilität", sagte die Französin. "Und wir werden kontinuierlich die Nebeneffekte unserer Politik beobachten."
Appell an die Politik
Gleichzeitig rief die Notenbankchefin die Regierungen dazu auf, ihren Beitrag zu leisten. Die Geldpolitik könne ihr Ziel schneller und mit weniger Nebeneffekten erreichen, wenn gleichzeitig politische Maßnahmen das Wachstum unterstützten. Der Haushaltspolitik komme dabei eine Schlüsselrolle zu. "Die öffentlichen Investitionen im Euro-Raum liegen weiterhin unter ihren Vorkrisen-Niveaus", kritisierte sie. Investitionen seien ein besonders wichtiger Bestandteil der Antwort.
Vor einigen Wochen hatte sie bereits Länder mit Haushaltsüberschüssen wie Deutschland und die Niederlande zu mehr Ausgaben im Kampf gegen die Konjunkturschwäche im Euro-Raum aufgefordert. Solche Länder sollten ihre Spielräume nutzen und etwa in die Infrastruktur oder Bildung investieren.
Forderung nach digitalem Aufbruch Europas
"Investitionen sind ein besonders wichtiger Teil der Antwort auf die Herausforderungen von heute, da sie sowohl die Nachfrage von heute als auch das Angebot von morgen sind", sagte Lagarde. Obwohl alle entwickelten Volkswirtschaften ein Wachstumsproblem hätten, seien die Staaten der Eurozone langsamer damit vorangekommen, ins digitale Zeitalter zu investieren als etwa die USA.
Wichtig sei eine Vollendung des gemeinsamen Digitalmarktes, der Kapitalmarktunion und der Dienstleistungsunion. "Das kann den Anstoß geben, den Europa braucht, um neue und innovative Firmen zu gründen und neue Technologien in der Union schneller zu verbreiten", sagte die EZB-Präsidentin.
Die ehemalige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte zu Monatsbeginn den Italiener Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) abgelöst. Sie erbte einen geldpolitisch gespaltenen EZB-Rat. Denn das im September beschlossene große Maßnahmenpaket zur Stützung der schwächelnden Konjunktur war intern teilweise stark kritisiert worden. Lagarde hatte bereits angekündigt, den Streit über die jüngsten Lockerungsschritte überwinden zu wollen.
Bei ihrem Auftritt zielte sie vor allem auf die großen ökonomischen Herausforderungen Europas ab und wählte eine entschieden politische Tonart. Auf die aktuelle Geldpolitik und den Streit darüber im EZB-Rat ging sie dagegen nicht ein.
Führende Stimme für Europa?
"Bis auf weiteres erfüllt Lagarde die Erwartungen, dass sie die führende wirtschaftliche und politische Stimme für Europa werden kann, statt die EZB schnell von Grund auf zu ändern", sagte Carsten Brzeski, Chefvolkswirt des Bankhauses ING Deutschland. Lagarde konzentriere sich etwas mehr auf Investitionen und das Freisetzen der Potenziale Europas, ergänzte Anatoli Annenkov, Volkswirt beim französischen Bankhaus Societe Generale. "Die große Frage hier ist, in welchem Umfang die Finanzminister zuhören werden."
Michael Schubert, EZB-Experte der Commerzbank, merkte an, dass die einstige französische Finanzministerin vor dem Europäischen Parlament deutlich gemacht habe, dass sie die Verbindung zur Politik als ihre Stärke ansehe. "Es ist daher nur folgerichtig, dass sie Appelle an die Politik richtet", sagte Schubert. Geldpolitisch sei ihre Rede dagegen enttäuschend gewesen.
Mahnende Worte des Bundesbank-Präsidenten
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, der Teile der jüngsten Lockerungsschritte der EZB kritisiert hatte, hält eine konjunkturstützende Geldpolitik zwar derzeit für angemessen. In seinem Auftritt auf dem Bankenkongress wies er aber besonders auf Nebenwirkungen der langanhaltenden Niedrigzins-Phase hin. "Eine längere Zeit der tiefen Zinsen könnte Investoren dazu bewegen auf der Suche nach Rendite übermäßige Risiken einzugehen, was den Boden für finanzielle Ungleichgewichte bereiten könnte", warnte er.
Lagarde wird mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Rolle Europas von den Spitzenvertretern europäischer Banken, die sich ebenfalls auf dem Bankenkongress zu Wort meldeten, weitgehend unterstützt.
"Wir brauchen Europa. Wir sollten mehr darüber reden, wie wir es stärken könnten", sagte Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing. Ein wichtiger Baustein sei die Bankenunion, deren Umsetzung schon vor Jahren beschlossen wurde, allerdings ins Stocken geraten ist. HSBC-Vize-Verwaltungsratschef Jonathan Symonds pflichtete Sewing bei: "Die Antwort auf Globalisierung ist nicht Fragmentierung. Wenn wir eine Ansammlung von heimischen Spielern sind, spielen wir nicht gut genug."
Chefs der Privatbanken fordern Fortschritte bei Bankenunion
Die vor rund fünf Jahren auf den Weg gebrachte Bankenunion sieht unter anderem einheitliche Finanzmarktrichtlinien und Regelungen zur Bankenabwicklung innerhalb der Europäischen Union vor. Die damit verbundene gemeinsame Einlagensicherung wird in Deutschland skeptisch gesehen. Kritiker vor allem bei Sparkassen und Genossenschaftsbanken fürchten, bei Schieflagen von Geldhäusern in Südeuropa in die Haftung genommen zu werden.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hatte Anfang November in der Debatte um eine EU-Einlagensicherung aber Kompromissbereitschaft gezeigt und damit die Steine wieder ins Rollen gebracht.
Unterstützung für Finanzminister Scholz
Auch Commerzbank-Chef Martin Zielke forderte schnelle Fortschritte bei der europäischen Bankenunion. "Wir können nicht zulassen, dass die weitere europäische Integration ein Traum bleibt", sagte Zielke auf dem Frankfurter Bankenkongress. Zielke stellte sich damit demonstrativ hinter die jüngsten Vorschläge von Finanzminister Olaf Scholz zur Weiterentwicklung der europäischen Bankenunion. Der SPD-Politiker hatte Anfang November neue Ideen präsentiert, wie Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Debatte gebracht werden kann. Dabei hatte Scholz unter anderem Kompromissbereitschaft bei der in Deutschland hochumstrittenen europäischen Einlagensicherung für Sparer signalisiert.
"Die meisten seiner Ideen finden meine volle Unterstützung", sagte Zielke. Durch eine Bankenunion würde die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Geldhäuser erhöht. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen, die voraussichtlich im Dezember ihre Arbeit aufnehmen wird, solle die Chance nutzen und Europa mehr Dynamik verleihen. Seit der Finanzkrise habe der Fokus darauf gelegen, die Kapitalausstattung der Banken zu verbessern. "Wir haben alle Verteidigung gespielt", sagte Zielke. "Jetzt müssen wir in die Offensive gehen."
tko/dk (rtr, dpa)