Flüchtlinge erstickt: "Bilder wie ein Appell"
21. Juni 2017Deutsche Welle: Der Fall der Flüchtlinge, die in einem Lastwagen auf dem Weg von Ungarn nach Österreich gestorben sind, hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Welche Wirkung hatten die Bilder in den Medien auf die öffentliche Meinung in Deutschland?
Michael Haller: Das Ereignis war der schreckliche Höhepunkt in einer langen Reihe von Bildern. Im Verlauf des ersten Halbjahres 2015 zeigten die Informationsmedien immer wieder aufwühlende Bilder über die Not der Flüchtlinge: Ertrinkende im Mittelmeer, Hungerleidende auf der Balkanroute, Mütter mit weinenden Kindern, dann Ende August 2015 der kleine Aylan tot am Strand von Bodrum, schließlich Anfang September die Bilder von den erstickten Flüchtlingen im Lieferwagen. Diese Sequenzen brachte den Menschen das Flüchtlingselend im wörtlichen Sinn aus fernen Ländern vor die Haustür.
Nicht lange danach öffnete Deutschland seine Grenzen. Wie hat der Fall die Flüchtlingsdebatte und die Politik in Deutschland beeinflusst?
Die Botschaft dieser Bilder wirkte wie ein Appell: Das darf nicht sein, da müssen wir jetzt etwas tun! Und diese Botschaft hat Angela Merkel wohl auch ermutigt, vorübergehend die Grenzen offen zu halten und alle Flüchtenden aufzunehmen. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Wie haben sich die Berichterstattung und die Wahrnehmung seitdem verändert?
Wie stets, wenn Katastrophen nicht vorübergehen - siehe der Zweite Weltkrieg mit seinen Ungeheuerlichkeiten -, tritt nach und nach eine Desensibilisierung ein. Man nennt das Gewöhnungseffekt. Das zuvor Unglaubliche wird glaubhaft, das Skandalöse alltäglich. Viele Menschen reagieren heute auf Bilder von Ertrinkenden im Mittelmeer mit einer gewissen Langeweile, in der Art: "Das kenn ich doch schon." Das wissen auch die Medienmacher. Entsprechend reduzierter sind heute die Bildnachrichten, viel zurückhaltender deren Botschaft.
Michael Haller ist emeritierter Professor für Journalistik und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig.
Das Gespräch führte Charlotte Hauswedell.