Frühwarnsystem folgenlos?
8. November 2011In den letzten Tagen des Juli 2011 landete endlich der erste Hilfsflug in Somalias Hauptstadt Mogadischu. An Bord: 10 Tonnen Notverpflegung für 3500 akut betroffene Kinder. Vorangegangen waren Wochen um Wochen des Feilschens – um Hilfszusagen, aber auch um Zugang zu den am schlimmsten betroffenen Hungerregionen in Südsomalia. Bereits acht Monate zuvor hatte es erste Warnungen vor einer epochalen Hungersnot am Horn gegeben. Gewarnt hatte unter anderem Fewsnet, das in Washington angesiedelte, internetgestütze Hunger-Warnsystem. Bereits im Herbst 2010 hatte Fewsnet, das von der staatlichen US-Entwicklungsbehörde finanziert wird, Detailkarten veröffentlicht, die zunehmend rot eingefärbt waren – Indikator für eine bevorstehende Hungersnot.
Das Frühwarnsystem Fewsnet war als Antwort auf die Hungersnot in Äthiopien Mitte der 1980er Jahre gegründet worden. 50 Mitarbeiter vor allem in Afrika speisen lokale Klimadaten in das System ein. Diese werden in den USA ausgewertet und wiederum betroffenen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung gestellt.
Warnung kam früh genug
Bei Fewsnet besteht man darauf, früh genug gewarnt zu haben. In der Tat wiesen die Wissenschaftler bereits im August und September 2010 auf steigende Nahrungsmittelunsicherheit in Äthiopien, in Kenia und Somalia hin, und informieren seitdem kontinuierlich auf der Website über die Bedrohungslage.
Dennoch: 25 Jahre nach der Gründung der Hunger-Frühwarnsysteme sind einmal mehr Millionen Äthiopier, Somalis und Kenianer von akutem Nahrungsmittelmangel betroffen. Ist Fewsnet also nur ein politisches Feigenblatt, eine Alibi-Veranstaltung? Man sei für die Vorwarnung und die Daten-Analyse zuständig, nicht aber für die politische und humanitäre Antwort darauf, heißt es etwas salopp bei Fewsnet in Washington. Damit ist die fundamentale Schwäche des Frühwarnsystems beschrieben: Die Warner warnen zwar – doch die nach geordneten Akteure in der Alarmkette üben sich im Zögern und Stillhalten.
Reagieren bevor die Krise eintritt
Wenige Helfer sind dabei so selbstkritisch wie die Nichtregierungsorganisation Oxfam, die seit Jahrzehnten in den Hunger-Gebieten Ostafrikas tätig ist. "Wir Nothelfer müssen früher reagieren, müssen auf die Warnungen vor einer Krise reagieren, damit sie erst gar nicht eintritt", sagt Debbie Hillier, bei Oxfam Beraterin für humanitäre Politik. Derzeit bestehe die Reaktion oft zunächst in einer Risikoabwägung, nach dem Motto: Hoffentlich kommt der Regen noch, dann wird alles gut. Damit aber wird das Risiko zynischerweise auf die Menschen in den betroffenen Ländern verlagert.
Gerne verweisen die Helfer auf ein Dilemma – und die Verantwortung der Geber. Erst wenn wie im Frühsommer Fernsehbilder aus den Hungerlagern das Ausmaß der Krise zeigten, flössen die Gelder der Geber. Wer versuche, früher zu handeln, dem werde Panikmache vorgeworfen – ein Teufelskreis, der die Helfer ihre eigenen Frühwarnsysteme missachten lasse.
Die Geber werden müde
In der Tat ist die Bereitschaft der Geber, aufs Neue Spenden für das chronisch kriselnde Horn zu sammeln, auf einem Tiefpunkt. "Donor fatigue" – Gebermüdigkeit – ist der offizielle Terminus. Sie führte in diesem Sommer dazu, dass sich der Frühalarm nur im Schneckentempo in Hilfszusagen übersetzte. Damit verstrich wertvolle Zeit, die Krise in einem Anfangsstadium unter Kontrolle zu bringen. Als die Krise manifest war, gab Brasilien mehr als Frankreich und Deutschland zusammen. Die frühere Kolonialmacht Italien fand nichts dabei, eine internationale Hilfskonferenz für Somalia auszurichten, ohne selbst einen einzigen Euro zu spenden.
Schuld für das nachlassende Geberinteresse tragen freilich auch die Akteure in den betroffenen Ländern selbst. Somalias chronisch schwache Übergangsregierung TFG ist weder kraft noch willens, Frühwarnungen in politische Handlungen umzusetzen. Die islamistischen Shabaab-Milizen wiederum, die die Hungergebiete Südsomalis kontrollieren, benutzen den Hunger als politische Waffe.
Im Fall Kenias und Äthiopiens sind die am ärgsten betroffenen Volksgruppen ethnische Somalis - und damit eine Minderheit, die in der jeweiligen Hauptstadt kaum eine politische Lobby hat. Im Gegenteil: Die äthiopische Regierung warf zwischenzeitlich Hilfsorganisationen aus der Somali-Region hinaus. Sie führt dort seit Jahren eine Militärkampagne durch. Zudem bedeutet die neuerliche Hungerkrise einen empfindlichen Rückschlag für Äthiopiens autoritären Regierungschef Meles Zenawi. Der hatte noch unlängst seinem Volk versprochen, binnen fünf Jahren nahrungsmittelautark zu sein – nun muss seine Regierung einmal mehr um Nahrungsmittelspenden bitten. Wie sensibel das Thema Hunger für die Machthabenden der Region ist, erfahren nicht nur die Potentaten der arabischen Länder. Schon der äthiopische Kaiser Haile Selassie stürzte über die – totgeschwiegene – Nahrungsmittelkrise in seinem Reich.
Die nächste Hungerkrise kommt bestimmt
Erschwerend kam bislang hinzu, dass Definition und Indikatoren einer Hungersnot unter Wissenschaftlern lange umstritten waren und teilweise noch immer sind. Dass die Warner aber zunehmend Hand in Hand und auf Grundlage eines standardisierten Kriterienkatalogs arbeiten, macht Hoffnung auf eine koordinierte und zeitnahe Reaktion in den kommenden Jahren.
Denn soviel steht fest: Die nächste Hungerkrise am Horn von Afrika kommt bestimmt. Die relativ beständigen Klima-Zyklen des letzten Jahrhunderts, als im Durchschnitt nur alle zehn Jahre eine Dürreperiode erfolgte, sind obsolet. Heute finden bei immer kürzer werdenden Abständen zwischen extremen Wetterlagen und verheerenden Ernteausfällen Mensch, Land und Tier kaum Zeit zur Regeneration. Die einzige Lösung aus dem Dilemma: Die Wurzeln des Hungerkreislaufes angehen. Dazu gehören die politische Marginalisierung der Vieh haltenden Bevölkerung ebenso wie der Mangel an Straßen, Bildung und Marktzugang. "Wir können Alarm schlagen, aber wir haben keinen Einfluss auf die politische Reaktion auf dem Boden", heißt es dazu bei den Frühwarnern von Fewsnet in Washington. Derweil sind die Fernsehkameras längst weitergezogen. Die Krise aber ist geblieben. Eine substantielle Ernte wird erst für August 2012 erwartet. Bis dahin werden heftige Regenfälle und Krankheiten wie Cholera viele Opfer unter den Geschwächten fordern. Auch dies haben Klima-Auguren bereits vor Monaten vorhergesagt.
Autor: Ludger Schadomsky
Redaktion: Matthias von Hein