Wegbereiter der Einheit
14. Mai 2010Was in den kommenden vier Tagen in Deutschland geschieht, ist kein normaler Staatsbesuch. In Bonn wird Michail Gorbatschow ein triumphaler Empfang bereitet - wie kaum einem Staatsgast zuvor. Der Mann aus Moskau elektrisiert die Menschen, sein Politslogan von "Glasnost und Perestroika" (Transparenz und Umgestaltung) hat bei ihnen einen guten Klang. Würden erst im Osten Europas Reformen durchgeführt werden, könnte vielleicht auch der kalte Krieg überwunden werden. So denken viele, als sie den sympathischen Kremlherrn mit seiner Frau Raissa vom Balkon des Bonner Rathauses winken sehen.
Einige Monate später reist Gorbatschow in die DDR, dem sozialistischen deutschen Bruderstaat, und erklärt den Machthabern, dass auch sie an radikalen Reformen nicht vorbeikommen. Für den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker stehen Reformen allerdings nicht auf der politischen Tagesordnung. Nahezu halsstarrig besteht die DDR-Führungsriege auf der universalen Gültigkeit der Klassiker des Sozialismus.
Ein euphorischer Beginn
Das Projekt eines sozialistischen Gegenentwurfs zu der am 23. Mai 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland beginnt am 7. Oktober desselben Jahres in Ostberlin mit Begeisterung. Gerecht soll es zu gehen in der "Deutschen Demokratischen Republik", die Produktionsmittel sollen verstaatlicht und eine sozialistische Planwirtschaft eingeführt werden. Der erste "Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" soll für die Menschen da sein und nicht für die "Bonzen".
Aber schon bei der Geburt des neuen Staates wird ein entscheidender Fehler gemacht, denn auch in der DDR herrscht nur eine Partei. Die aus SPD und KPD hervorgegangene "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands"(SED) besetzt die Führungspositionen im Staat und bestimmt das Leben in der DDR.
Die Propaganda fruchtet nicht
Während die Westdeutschen unter anglo-amerikanischem Einfluss stehen, kontrolliert die Sowjetunion den ostdeutschen Staat. Aber es gelingt dem Propagandaapparat nicht, Begeisterung für den "sozialistischen Staat" zu entfachen. Die meisten DDR-Bürger bleiben von den Parolen einer besseren "sozialistischen Gesellschaftsordnung" unbeeindruckt. Sie leiden unter materiellen Mängeln des Systems, zumal sich im Westen Deutschlands schon bald eine prosperierende Wirtschaft entwickelt.
Das Gefühl, den Entscheidungen des Staates ohnmächtig ausgeliefert zu sein, steigert sich noch, als im Juni 1953 ein Aufstand Berliner Arbeiter brutal unterdrückt wird. Viele nehmen dieses Ereignis zum Anlass, der DDR den Rücken zu kehren.
Der Bau des "antifaschistischen Schutzwalls"
Im August 1961 sind es nahezu 2.000 Menschen, die Tag für Tag das Land verlassen – seit der Staatsgründung sind es schon mehr als zweieinhalb Millionen. Es herrscht Facharbeitermangel, Ärzte, Lehrer und Ingenieure fehlen. Am 13. August zieht das Regime in Ost-Berlin die Notbremse: In einer sorgsam vorbereiteten Aktion wird an diesem Tag eine Mauer mitten durch Berlin gezogen, die für die kommenden 28 Jahre die Nahtstelle des Kalten Krieges zwischen den hochgerüsteten Armeen des Warschauer Paktes und der NATO sein wird.
Wandel durch Annäherung
Aber schon bald nach dem Mauerbau beginnen Verhandlungen darüber, wie die nahezu unüberwindliche Grenze wieder durchlässiger gemacht werden kann. Weihnachten 1963 wird das erste von fünf Passierscheinabkommen ausgehandelt. Bis Anfang Januar 1964 besuchen daraufhin knapp eine Million Westdeutsche ihre Verwandten in der DDR. "Wandel durch Annäherung" heißt es nun – ein Konzept, mit dem die SPD in den 70er Jahren ihre Ostpolitik umschreibt.
Doch Willy Brandts "Entspannungspolitik" ist umstritten. Teile der Bevölkerung sowie CDU und CSU sehen darin ein Paktieren mit dem kommunistischen Klassenfeind. Dennoch besucht Brandt im März 1970 als erster westdeutscher Regierungschef die DDR. Bei den Verhandlungen mit der DDR-Regierung geht es um einen Grundlagenvertrag, der Gewaltverzicht und Anerkennung der bestehenden Grenzen ebenso garantiert wie den Austausch von "Ständigen Vertretern", die anstelle von "Botschaftern" das besondere deutsch-deutsche Verhältnis symbolisieren. Am 21. Dezember 1972 wird dieser Vertrag unterzeichnet.
Der Widerstand wächst
Von einer Normalisierung des Verhältnisses sind die beiden deutschen Staaten in den 1980er Jahren aber noch weit entfernt. Eine lauter werdende Opposition lässt sich in vielen Ländern des Ostblocks - und auch in der DDR - nicht mehr überhören. Kirchliche Gruppen, Umweltschützer und gesellschaftliche Reformer fordern die Einhaltung der Grundrechte, mehr Freiheiten und einen "echten Sozialismus", der mehr ist, als die in der DDR praktizierte Verstaatlichung der Produktionsmittel.
Anfangs können die Protestgruppen von Polizei und "Staatssicherheitsdienst" noch unterdrückt und mit drastischen Strafen mundtot gemacht werden. Aber das Ende des zweiten deutschen Staates ist Mitte der 1980er Jahre besiegelt.
Michail Gorbatschow wird Kremlchef
Am 11. März 1985 betritt mit Michail Gorbatschow ein vergleichsweise junger Mann die politische Bühne in Moskau. Nach dem Tod des greisen Konstantin Tschernenko wird der 54-jährige Gorbatschow neuer Generalsekretär der KPdSU. Er beginnt sofort mit einem tiefgreifenden Reformprogramm und findet damit begeisterte Anhänger bei den Oppositionsgruppen im Ostblock. Vor allem in Polen ("Solidarnosc") und in der DDR sind die Rufe nach "Glasnost und Perestroika" deutlich zu hören. Und auch außenpolitisch stellt Michail Gorbatschow die bisherige Politik der Sowjetunion auf den Kopf.
Mit der "Breschnew-Doktrin" vom 12. November 1968 war die Souveränität der Staaten des Ostblocks eingeschränkt und den Interessen der Sowjetunion untergeordnet worden. Oppositionelle Bewegungen waren seither als "Konterrevolution" abqualifiziert worden. Gorbatschow hebt dieses außenpolitische Sanktionsmittel auf und nimmt damit den Regierungen des Ostblocks eine Handhabe gegen die Opposition im eigenen Land.
"Wir sind das Volk!"
Zum 40. Geburtstag der DDR, am 7. Oktober 1989, kommt der Erfinder von "Glasnost und Perestroika" nach Ostberlin. Gleichzeitig erreichen die Demonstrationen einen neuen Höhepunkt. Die Menschen wollen eine Demokratisierung der Gesellschaft, Reisefreiheit und Reformen des Staates. Sie fordern den Rücktritt der Kommunisten und eine neue Regierung. Michail Gorbatschow, den sie mit lauten "Gorbi, Gorbi"-Rufen feiern, soll ihnen dabei helfen.
Während eines Spaziergangs über den Ostberliner Alexanderplatz wird dem Kreml-Chef die Frage gestellt, ob er denn Gefahren für die DDR sehe. Gorbatschow antwortet mit dem legendär gewordenen Satz: "Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren." Später wird daraus das Zitat, "wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
"Wahnsinn"
Gut einen Monat nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR beschließt die neue Regierung in Ostberlin ein Reisegesetz, "das jedem DDR-Bürger, auch ohne Vorliegen von Gründen" die Ausreise in die Bundesrepublik ermöglicht. Diese während der allabendlichen Pressekonferenz des Regierungssprechers Günter Schabowski am 9. November 1989 eher beiläufig preisgegebene Entscheidung, bringt das Fass zum Überlaufen.
In den 19:00 Uhr-Nachrichten wird diese Meldung verbreitet. Innerhalb weniger Stunden sind DDR-Bürger aus allen Teilen des Landes an den Grenzübergangsstellen versammelt und wollen in den Westen. Gegen Mitternacht öffnen DDR-Grenzbeamte die Schlagbäume. Zu Tausenden strömen DDR-Bürger daraufhin nach West-Berlin – die meisten von ihnen sind zum ersten Mal im westlichen Teil der Stadt. Wildfremde Menschen liegen sich weinend in den Armen. "Wahnsinn" – das ist das Wort dieser Nacht, in der die deutsche Teilung und die Spaltung des europäischen Kontinents überwunden werden.
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Manfred Götzke