Die Todesangst als ständiger Begleiter
30. August 2018"Ich hatte riesengroße Angst, bald zu sterben", sagt Helen B. Die quälende Angst, todkrank zu sein, Leukämie zu haben, ließ sie nicht mehr los. Sie konnte kaum noch schlafen. Ihre Gedanken kreisten andauernd um ihre Symptome, ihre geschwollenen Lymphknoten: "Es begann als mein Sohn ein Jahr alt war", erinnert sie sich. Ihren echten Namen will sie nicht nennen.
Die Norwegerin war damals selbst erst 20 Jahre alt. Permanent behielt sie ihren Körper im Blick - jede vermeintliche Veränderung bestätigte sie in ihrer Sorge. Schwer krank zu sein - das war für sie keine Möglichkeit mehr, sondern Gewissheit. Sie suchte Bestätigung bei ihrer Hausärztin.
Die untersuchte sie von Kopf bis Fuß, schickte ihr Blut ins Labor und bescheinigte der jungen Mutter eine fabelhafte Gesundheit. Doch der Zweifel an der Diagnose und die Angst vor der Krankheit ließen ihre Patientin nicht los.
Einige Monate und viele Arzttermine später war ihrer Hausärztin klar, worunter Helen B. wirklich litt: Es war keine Leukämie, sondern Krankheitsangst. Früher nannte man das Hypochondrie - die Angst, ernsthaft krank zu sein. Heute spricht keiner mehr von Hypochondern, denn "das stigmatisiert Menschen wie mich", sagt B.
Sie brauchte dringend Hilfe - und bekam sie in ihrer Heimatstadt Bergen: Hier befindet sich Europas einzige Spezialklinik für Patienten mit Krankheitsangst.
Erlebnisse in der Vergangenheit
Die kleine Klinik für Krankheitsangst befindet sich auf der sechsten Etage des Haraldsplass Diakonale Krankenhaus. Das Haus liegt an einem Hang. Bei freier Sicht hat man einen wunderschönen Blick über das Tal, in dem die Stadt liegt, bis zu den Bergen auf der anderen Seite.
Helen Bs. Sicht auf ihr Leben war lange getrübt. Angst dominierte ihre Gedanken und ihren Alltag - bis sie 2003/2004 bei Psychiater Ingvard Wilhelmsen ihre Behandlung begann. Wilhelmsen, Gründer der Klinik, ging ihrer Angst auf den Grund. "Zu Beginn der Therapie frage ich Patienten nach ihren einschneidenden Erlebnissen", sagt Wilhelmsen.
Helen B. hatte früh Krankheit erlebt und Verlust. Ihre Mutter starb, als sie sechs Jahre alt war.
Sie wuchs bei ihrem Vater auf - einem "sehr männlichen Mann", wie sie sagt. Sie habe ihn das erste Mal nach dem Tod der Mutter weinen sehen.
Ihre Angst vor Krankheiten kam dann später - mit der Geburt ihres ersten Sohnes. Zuerst befürchtete sie, er könnte bald sterben. Doch dann entdeckte sie erste Anzeichen der Angst um ihr eigenes Leben: Mal waren es Kopfschmerzen, mal Blutergüsse, mal Abgeschlagenheit.
Und immer befürchtete Helen B., dass sie schwer krank ist. "Ich habe mir sogar ein medizinisches Buch gekauft" - ein Fehler, sagt sie heute. Das Nachschlagen der Symptome löste in ihr immer wieder die Überzeugung aus, dass sie todkrank war. "Ich war nicht auf eine Krankheit fixiert, aber ich habe immer eine gefunden, die zu meinen Symptomen passte."
Die vermeintlichen Diagnosen stellte sie alle selbst: Leukämie, Lymphdrüsenkrebs, ein Gehirntumor, später auch Multiple Sklerose. "Ich habe mich gefühlt, als halte mir jemand die Pistole an die Schläfe und ich wartete darauf, dass jemand abdrückt."
Während die meisten Menschen froh sind, wenn der Arzt Entwarnung gibt und keine körperliche Ursache finden, war Helen B. nur für wenige Stunden beruhigt: "Ich dachte, meine Ärztin sei die schlechteste Medizinerin der Welt."
Auch ihr Ehemann konnte sie nur für kurze Zeit beruhigen. Da musste etwas sein. "Tagsüber habe ich funktioniert, habe mein Lehramtsstudium beendet. In der Nacht habe ich geweint, weil ich dachte, dass ich bald sterben würde und mein Sohn dann keine Mutter mehr hat." Sechs Monate nach den ersten Arztbesuchen begann sie ihre kognitive Verhaltenstherapie.
Körpersymptome werden intensiv wahrgenommen
Bei Ingvard Wilhelmsen hat Helen B. sich auf Anhieb wohlgefühlt: "Er hat mir zugehört und mich und meine Ängste ernst genommen." Menschen mit Krankheitsangst würden oft als hysterisch gelten, man sagt ihnen nach, Aufmerksamkeit zu suchen, sagt Wilhelmsen.
Fast jeder meine, ihn zu kennen, den typischen "Hypochonder" - einer, der beim kleinsten Husten denkt, er sei schwer krank. Doch das ist das Klischee. Für die Betroffenen selbst und für ihr Umfeld bestehe eine starke Belastung, sagt der Psychiater: "Sie haben wirklich pure Todesangst", erklärt er - so wie Helen B.
Manche Patienten würden Besuche beim Arzt sogar meiden - aus Sorge, dass er ihnen bestätigt, dass sie krank sind, sagt Wilhelmsen. Diese Patienten seien besonders hilflos.
Menschen mit einer Krankheitsangststörung nehmen Körpersymptome intensiv wahr - sie "schenken ihnen sehr viel Aufmerksamkeit", sagt Wilhelmsen. Das ist ein Teufelskreis, "denn dann beginnt eine erhöhte Adrenalinproduktion, das Herz rast und man schwitzt vor lauter Angst". Diese Symptome verstärkten erneut die Angst.
Patienten sind oft kreative Menschen
Als Lehrerin hatte Helen B. nie Angst vor Bakterien oder Infektionen: "Die Arbeit in der Schule mit den Kindern hat mir nie etwas ausgemacht." Sie fürchtete sich vor den wirklich gefährlichen Krankheiten.
Warum manche Menschen diese Störung entwickeln, lässt sich nicht eindeutig beantworten. "Die meisten Patienten sind sehr kreative Menschen", sagt Wilhelmsen. Meist seien sie beharrlich und versuchten, alles zu kontrollieren. "Sorge wird dabei zu einer Art Kontrolle über etwas Unkontrollierbares", sagt er.
Die Sterblichkeit akzeptieren
Der Psychiater selbst ist mit Mitte 30 an der Autoimmunerkrankung Transverse Myelitis erkrankt, einer seltenen neurologischen Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft. Heute ist er 68. "Man kann sich nicht aussuchen, ob man gesund oder krank ist, aber man kann sich aussuchen, ob man daran glaubt, gesund zu sein, wenn es so ist. Die Einstellung muss sich ändern."
Besonders wichtig sei aber: "Patienten müssen akzeptieren, dass sie sterblich sind." Daran arbeitete er auch mit Helen B. "Ingvard Wilhelmsen sagte mir, dass jeder Mensch ein Projekt hat: Meins bestand darin, zu überleben. Doch niemand lebt für immer. Also war mein Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das habe ich begriffen", versichert sie: "Ingvard Wilhelmsen war im Verlauf der gesamten Therapie so überzeugend."
Manchmal erzählt der Psychiater seinen Patienten ihre eigene Geschichte laut: "Manche beginnen zu lachen und sagen mir, 'Wilhelmsen, das klingt total krank'." Sie merkten schnell, dass viele ihrer Gedanken irrational seien. Eine Antwort auf ein mögliches Ereignis in der Zukunft zu suchen, sei nicht möglich. "Sie müssen diesen konstanten Zweifel aus dem Weg räumen", sagt er: "Das können sie nur, wenn sie selbst entscheiden, der Angst nicht länger zu vertrauen."
Symptome anders deuten
Die Zahl der Menschen, die an Gesundheitsangst leiden, ist nur schwer zu schätzen, denn viele Patienten suchen aus Schamgefühl keinen Arzt auf. Verschiedenen Angaben zufolge soll ein Prozent der Norweger daran leiden. In Deutschland soll jeder zehnte von Krankheitsangst betroffen sein. Tendenz steigend. Denn immer mehr Menschen suchen im Internet Informationen zu Krankheitsbildern. Bei einigen verstärkt sich dadurch die Angst vor Krankheiten. Cyberchondria heißt dieses Phänomen.
Ingvard Wilhelmsen behandelt in seiner kleinen Klinik im norwegischen Bergen etwa 100 Patienten pro Jahr. Die meisten kommen mit nur fünf ambulanten Sitzungen aus. "Zehn Jahre später geht es vielen von ihnen immer noch gut", sagt er. Wilhelmsen ist es wichtig, dass Helen B. und die anderen Patienten am Ende der Behandlung ihre Haltung zum Thema Gesundheit und Krankheit ändern.
Helen B. hat nach der Geburt ihres zweiten Sohnes 2007 noch eine sechste Therapiestunde in Anspruch genommen, "da ist noch mal was hochgekommen", sagt sie. Aber seither habe sie gelernt, ihren Symptomen nicht mehr so viel Bedeutung zu schenken. Und sie habe ihr medizinisches Buch weggeworfen.
Auch das Internet nutze sie nicht mehr, um nach Symptomen zu suchen: "Ich habe mir ein neues Projekt für mein Leben gesucht. Ich konzentriere mich auf das Leben im Jetzt, meine Familie und meine Freunde", sagt sie lächelnd. "Ich akzeptiere, dass es Unsicherheiten im Leben gibt."
Ihrem Vater hat sie lange Zeit nichts von der Therapie und ihren Sorgen erzählt. Sie wollte ihn damit nicht belasten. Wilhelmsen habe sie ermutigt, offen darüber zu sprechen. Durch die Therapie habe sie ihr Leben zurück, sagt sie. Heute ist Helen B. 34 Jahre alt und hat drei Kinder.