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Die Debatte um eine "Leitkultur" - typisch deutsch?

Felix Schlagwein
7. Mai 2017

Einen starren Regelkanon zu formulieren, hält die Bildungsforscherin Yasemin Karakaşoğlu für typisch deutsch. Im DW-Interview erklärt sie, warum es viel wichtiger sei, Demokratie und Integration im Alltag zu leben.

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Bildungsforscherin Yasemin Karakaşoğlu
Bild: J. Baier

DW: Mit der Formulierung von zehn Grundsätzen einer "deutschen Leitkultur" hat Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière eine breite Diskussion hervorgerufen. Ist diese Debatte um das, was "typisch deutsch" ist, "typisch deutsch"?

Yasemin Karakaşoğlu: Das kann man sicherlich so sagen. Dass öffentlich artikuliert wird, was eine "typisch deutsche Leitkultur" sein könnte, zeigt, dass man im Land selbst auf der Suche danach ist, woran sich das festmachen lässt. In anderen Ländern geht es vielmehr um den Schwur auf die Flagge, den Eid auf die Nationalhymne, um symbolische Akte. Bei uns geht es vielmehr um eine inhaltlich ausdifferenzierte Festlegung von dem, was für alle gelten soll.

Halten Sie die Definition einer "Leitkultur" von staatlicher Seite für gewinnbringend für eine Gesellschaft?

Ich denke, dass sich die "Leitkultur" einer Gesellschaft, wenn es überhaupt etwas geben kann, was mit diesem Begriff zu fassen ist, im Umgang der Menschen miteinander zeigen und beweisen muss. Ich halte es da absolut mit Habermas, der sagt, dass es darum geht, dass sich Menschen in die politische Kultur eines Landes einleben und sich aktiv einbringen sollten. Es sollten hingegen nicht bestimmte Wissensbestände, die vorgeblich in der kulturellen Geschichte eines Landes liegen, als Elemente einer so genannten "Leitkultur" zementiert werden.

Liegt die "Leitkultur" eines Landes nicht in seinen Gesetzbüchern? Bedarf es wirklich einer zusätzlichen "Richtschnur des Zusammenlebens", wie es der Innenminister formuliert hat?

Ja, sie liegt in den Gesetzen und darin, wie diese gelebt werden. Und wenn es überhaupt etwas gibt, was ich für Deutschland relativ typisch finde, und wo ich auch sagen würde, dass es eine gewinnbringende Entwicklung ist, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, so ist das eine Kultur des Streitens, der Auseinandersetzung, der Selbstkritik. Es gibt politische Phänomene am rechten Rand, wie Pegida und AfD, die immer größere Bereiche der Mitte erreichen, die versuchen, eine nationale Identität festzuschreiben und als solche zu überhöhen. Aber eigentlich waren wir in Deutschland, wie ich finde, sehr erfolgreich damit, dies sehr kritisch aus unserer eigenen historischen Erfahrung heraus zu betrachten. Das ist etwas, das man Zuwanderern, die so etwas aus ihren Heimatländern vielleicht nicht kennen, in einem gelebten Miteinander als Selbstverständnis dieses Staates, dieser Gesellschaft nahebringen muss. Aber wir brauchen keinen Kanon aus bildungsbürgerlichem Wissensbestand, den man inhalieren und auf Abruf von sich geben können soll.

Sätze wie "Wir sind nicht Burka", wie sie in den Thesen zur "Leitkultur" des Innenministers stehen, sollen die Abgrenzung vor allem zur islamischen Welt unterstreichen. Ähnliche Töne sind aus fast allen Ländern Europas und auch außerhalb des Kontinents, mal mehr mal weniger lautstark, zu hören. Igelt sich der Westen kulturell ein?

Sätze wie diese sind wenig hilfreich und wenig aussagekräftig. Wer ist schon Burka? Wir sind nicht Burka und niemand sonst ist Burka. Burka ist eine Bekleidung, die jemand trägt oder nicht. Sie steht durchaus für eine bestimmte Sicht auf den Islam. Aber diese Aussage ist eine sehr defensive Umgangsweise mit Pluralität in einer Demokratie. Ich muss mich nicht auf diese Weise abgrenzen, sondern ich muss mein Verständnis von Pluralität lebbar, erfahrbar und authentisch vermittelbar machen. Als eine funktionierende Demokratie, die wir sind, haben wir es überhaupt nicht nötig, uns in einer solchen Art und Weise abzugrenzen. Wir erleben, dass andere Sichtweisen und Lebensformen ihr Geltungsrecht beanspruchen. Jetzt wird in einer Streitkultur darüber diskutiert, was noch hinnehmbar und erträglich ist. Wir diskutieren darüber, was wir teilen können und wo vielleicht auch die Grenze von dem liegt, was wir miteinander teilen können und wollen. Das sind völlig normale Prozesse einer Einwanderungsgesellschaft, die sich in einem globalen Wandlungsprozess selbst verorten muss. Das allerdings in dieser Weise zu artikulieren, macht auf mich einen sehr hysterischen und defensiven Eindruck, da man versucht, sich dadurch zu definieren, was man eben nicht ist.

Wie kann man Menschen, die in Deutschland integriert werden sollen, dieses Verständnis von Pluralität nahebringen?

Wir haben ja auch in Deutschland viele Menschen, die noch nicht so richtig verstanden haben, wie eigentlich ein demokratisches, pluralistisches Miteinander funktioniert. Ich finde, man sollte nicht müde werden zu betonen, dass, wie es Frank-Walter Steinmeier sehr schön gesagt hat, Demokratie anstrengend und eine Zumutung für jeden von uns ist, aber eine Zumutung, die sich lohnt. Es lohnt sich, diese Zumutung auf sich zu nehmen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Effekte davon sind, dass man in Deutschland sehr unterschiedliche Lebenskonzepte leben kann und dass niemand das Recht hat, das Lebenskonzept des anderen, solange es nicht anderen ihr Existenzrecht streitig macht, zu verbieten. Das zu vermitteln, kann Schule allein nicht leisten. Demokratie muss in der alltäglichen Praxis gelebt und erfahrbar gemacht werden. Resultate von Abstimmungsprozessen müssen erlebbar sein, sich authentisch manifestieren. Das ist etwas, was jedem, der nach Deutschland kommt, vermittelt werden sollte. Das geschieht auch in Integrationskursen, aber vor allem im täglichen Miteinander. Menschen müssen erkennen, dass sie etwas bewirken und beeinflussen können und dass es eben dieser Respekt vor Pluralismus ist, der ihnen ihre persönliche Lebensweise ermöglicht, die vom Mainstream abweichen kann.

Viele Kritiker werfen de Maizière Stimmungsmache im Bundestagswahlkampf vor. Glauben Sie, dass er mit seinem Plädoyer für eine "deutsche Leitkultur" viele potenzielle Wähler anspricht?

Ich kann mir vorstellen, dass das die Idee ist, die dahinter steht. Solche Formulierungen sollen den rechten Ideologen und Stimmungsmachern Sympathisanten wegnehmen und sie in die CDU reintegrieren. Das ist meines Erachtens aber der falsche Weg. Unsere Demokratie müsste sich doch genau dadurch beweisen, dass sie sich Parolen, die meiner Meinung nach Rattenfängersätze sind, nicht zu eigen macht, sondern sich klar von ihnen abgrenzt.

Das bewusste Leben einer "Leitkultur" ist nach Meinung des Innenministers Voraussetzung für gute Integration und Toleranz. Was halten Sie von dieser These?

Mir ist wichtig zu betonen, dass der Begriff der "Leitkultur" etwas sehr Statisches ist. Da wird etwas von staatlicher Seite vorgegeben, das leitend für alle sein soll. Es bekommt das Label "Kultur", wobei Kultur ja eigentlich etwas ist, was wir Menschen untereinander verhandeln. Kultur ist beweglich, flexibel, veränderbar - zum Glück - und passt sich neuen Gegebenheiten und Herausforderungen an. Ein solch starrer Begriff wie "Leitkultur", ausbuchstabiert bis ins kleinste Detail, nimmt der Kultur genau dieses Wesen und damit auch die Quelle ihrer Kreativität. Aus dieser Perspektive heraus kann eine staatlich vorgegebene "Leitkultur" nicht der Garant für Toleranz und friedliches Miteinander sein. Toleranz ist eine Haltung, eine Umgangsweise miteinander, und kein Diktum, das man, ohne zu wissen was damit eigentlich inhaltlich gemeint ist und ohne es wirklich zu fühlen, zu übernehmen hat.

Yasemin Karakaşoğlu wurde 1965 in Wilhelmshaven geboren und wuchs in einem deutsch-türkischen Elternhaus auf. Sie ist Professorin und Konrektorin für Internationalität und Diversität an der Universität Bremen.

Das Gespräch führte Felix Schlagwein.