Kaukasier im Flüchtlingszug nach Europa
4. November 2013Jeden Morgen um 8.01 Uhr fährt vom Bahnhof der belarussischen Stadt Brest ein Zug ins nahegelegene polnische Terespol. Im Laufe des Tages fahren diese Strecke drei Züge, aber gerade der Zug am Morgen ist besonders gefragt. Meist sind mehr als die Hälfte der Fahrgäste aus dem Nordkaukasus, manchmal bis zu 300 Personen. Die Fahrt über die EU-Grenze dauert nur etwa 20 Minuten.
Nach Angaben der belarussischen und polnischen Behörden passieren seit einiger Zeit immer mehr Menschen aus der russischen Kaukasus-Region die Grenze zwischen den beiden Ländern. Die Mehrheit von ihnen beantragt in Polen umgehend einen Flüchtlingsstatus. Dem polnischen Grenzdienst zufolge werden derzeit 90 Prozent aller Asylanträge in Polen am Übergang Brest-Terespol gestellt. Im ersten Halbjahr 2013 waren es 9500. 8730 von ihnen stammen von russischen Staatsbürgern - fast eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr.
Bange Reise in den Westen
Bei der Passkontrolle im Bahnhof im belarussischen Brest haben die Kaukasier in der Regel keine Probleme. Die belarussischen Grenzbeamten müssen nicht prüfen, ob russische Staatsbürger bei der Ausreise aus Belarus ein Visum für die Einreise in die EU haben. Sie schauen nur, ob die vorgezeigten Passdokumente ordnungsgemäß sind.
Schon wenn der Zug losfährt, wird spürbar, wie nervös die Menschen sind. Sie scheuen längere Gespräche. Man erfährt nur, dass sie meist aus Tschetschenien stammen und ohne ein Schengen-Visum für die EU unterwegs sind. Sie sagen, dass sie in den Westen wollten. Dort würden bereits Verwandte leben. In ihrer Heimat sei es heute "nicht sehr gut". Es gebe "keine Freiheit".
Asylantrag in Polen
Nach Ankunft des Zuges im polnischen Terespol können zuerst die Passagiere aussteigen, die ein gültiges Schengen-Visum haben. Diejenigen, die kein Visum haben, müssen teils mehrere Stunden im Zug warten, bis sie von polnischen Grenzbeamten in einen speziellen Raum im Bahnhofsgebäude geführt werden. Dort werden sie von polnischen Behördenvertretern befragt. Tipps, was sie ihnen antworten sollen, bekommen die Flüchtlinge oft noch in Belarus von ihren Landsleuten mit auf den Weg.
Wenn die Polen zur Überzeugung gelangen, dass die Menschen gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, dürfen sie bleiben - zumindest bis geklärt ist, ob sie Asyl erhalten. Doch nur wenige schaffen es überhaupt in dieses Prüfungsverfahren. Die meisten werden umgehend wieder in den Zug gesetzt und zurück nach Belarus geschickt. Viele von ihnen unternehmen jedoch schon am nächsten Tag erneut den Versuch, in die EU zu gelangen. Sie wollen nicht in den Nordkaukasus zurück. Oft bleiben sie sogar über längere Zeit in Brest, um auf eine neue Gelegenheit für eine Fahrt in die EU zu warten.
Lukratives Geschäft
Für die Einwohner von Brest ist die Vermietung von Unterkünften für die Menschen aus dem Nordkaukasus in den letzten Jahren zu einem lukrativen Geschäft geworden. Maklern zufolge hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Mietpreise. Nur noch in der Hauptstadt Minsk seien sie höher. "Es ist viel profitabler, Tschetschenen, Dagestaner oder Georgier für eine Nacht unterzubringen als eigene Landsleute", sagt Jewgeni, der in Brest mit Leuten zusammenarbeitet, die Wohnungen für Kaukasier zur Verfügung stellen. Eine Wohnung für eine Familie könne bis zu 100 US-Dollar kosten - pro Tag.
Jewgeni berichtet auch, dass die Kaukasier im Ausland gut vernetzt seien. Wenn jemand in einem EU-Staat als Flüchtling anerkannt werde, dann würde sich diese Nachricht schnell verbreiten. Die Folge sei, dass immer neue Menschen aus dem Nordkaukasus nach Brest kämen.
Weiter nach Deutschland
Nur etwa 30 Prozent derjenigen, die in Polen Asyl beantragen, warten jedoch das Anerkennungsverfahren ab. Für die meisten Kaukasier ist Polen nicht das endgültige Ziel. Sie verlassen schnell die polnischen Flüchtlingsunterkünfte und machen sich illegal auf den Weg in andere EU-Staaten, darunter nach Deutschland.
Meist ist ihnen nicht bewusst, dass sie nach EU-Recht in keinem anderen EU-Land Asyl beantragen dürfen, wenn sie dies bereits an der belarussisch-polnischen Grenze getan haben. Außerdem müssen sie damit rechnen, dass sie nach Polen abgeschoben werden. Aber das ist für die Menschen aus dem Nordkaukasus immer noch ein geringeres Übel als die Rückkehr in ihre Heimat.