Keith Jarrett: Abschied von der Bühne
30. Oktober 2020In der Tiefe einer Konzerthalle, mutterseelenallein auf einem Podest, sitzt ein Mann, sein Haupt tief gesenkt, fokussiert auf die Tasten des Konzertflügels vor ihm: Der Mann ist Keith Jarrett, der weltberühmte Pianist. Am 3. Juli 2016 gibt er in dem Budapester Béla Bartók-Konzertsaal ein Konzert und wirkt kaum anders als 41 Jahre zuvor, als er am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper ein gut anderthalbstündiges, improvisiertes Konzert gab, dessen Mitschnitt, "The Köln Concert", die meistverkaufte Jazz-Platte eines Solo-Künstlers überhaupt werden sollte. Damit wurde Jarrett zur Jazz-Legende - wenn auch mit Star-Allüren.
Die Pianisten-Karriere wurzelt in Allentown, jener Industriestadt im US-Staat Pennsylvania, die Billy Joel im Song "Allentown" besang. Dort wurde Keith Jarrett am 8. Mai 1945 geboren, just an dem Tag, an dem in Europa der Zweite Weltkrieg endete. Mit drei Jahren begann Jarrett, ältester von fünf Söhnen einer christlich geprägten Familie, Klavier zu spielen. Zur Freude seiner aus Europa eingewanderten Großeltern hatte er ein klassisches Repertoire, spielte Bach, Brahms und Beethoven oder auch Mussorgsky.
Von Mussorgsky zu Miles Davis
Am 12. April 1953 um drei Uhr nachmittags, berichtet sein Biograf Wolfgang Sandner, bestieg das Wunderkind die Bühne eines Gemeindehauses in Allentown und reüssierte erstmals solistisch. Noch waren es klassische barocke und romantische Werke, die er aufführte.
Und dann kam der Jazz: In dessen Kosmos steuerte Jarrett steil nach oben, wenngleich im Zick-Zack-Kurs über Piano-Bars und große Jazz-Festivals, um schließlich im Olymp zu landen. Keith Jarrett erspielte sich 1969 als E-Pianist einen Platz in der Formation des Jazz-Titanen Miles Davis.
Doch die Zusammenarbeit währte nur kurze Zeit, denn Jarrett wollte als Solo-Künstler durchstarten. Bis 1975 tourte er durch die Welt, gab zahlreiche Solo-Konzerte, darunter auch eben jenes "Köln Concert", das sein kongenialer Produzent Manfred Eicher mit seinem Münchner Label ECM zu einem Jahrhundert-Album vermarkten konnte.
Die "The Köln Concert"-Platte gehörte eine Zeit lang in jedes gut sortierte Plattenregal. In einem bissigen Gedicht beschrieb der Satiriker Wiglaf Droste dies als Trauma seiner Generation:
Schwarze Tasten, weiße Tasten
Töne, die das Herz belasten,
Hände, die nicht ruhn noch rasten
hasten über Tasten, tasten.
Junge Menschen wurden greise
wenn Keith Jarrett klimperte
auf dem Flokati litt ganz leise
wer vorher fröhlich pimperte.
Keith Jarrett: von der Kritik geliebt, von Fans gefürchtet
Mit dem Kölner Mitschnitt bewies Keith Jarrett, dass Jazz auch massentauglich sein kann. Aber nicht nur das Publikum liebt ihn, auch die Musikkritik ist sich weitgehend einig über sein Können. Er sei, "wie ein Kentaur - halb Mensch, halb Klavier", schrieb unlängst die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" mit Blick auf Jarretts Solo-Konzerte, bei denen er "mit dem Instrument verschmolz und die Tasten bog, um sie zum Jammern zu bringen wie eine alte Bluesgitarre". Jarrett-Biograf Wolfgang Sandner nennt ihn den "größten Klavier-Improvisator unserer Tage".
Zugleich rankt sich um das Kölner Konzert bereits manche Anekdote, die zeigt, welch hohe Ansprüche Jarrett an Konzertveranstalter und das Publikum stellt. Von jeweils drei Flügeln, die ihm pro Konzert zur Verfügung stehen müssten, ist die Rede. Es kam schon vor, dass Jarrett Konzerte bei einem Hüsteln im Publikum unterbrach und sich bei seinen Zuhörern über die Unruhe beschwerte. Für Kratzer an Jarretts Image sorgten auch seine Auftritte bei Italiens größtem Jazz-Festival in Perugia, wo Jarrett lange fest zum Line-up gehörte. 2007 bedachte er das Publikum mit allerlei Beschimpfungen und drohte allen, die auch nur daran dachten, ihn zu fotografieren. Die Bühne musste das gesamte Konzert über nahezu völlig abgedunkelt werden. Das Publikum saß im tiefschwarzen Dunkel in den Rängen. Ein paar Jahre verzichteten die Festival-Veranstalter in Perugia daraufhin auf ihn, erst 2013 wurde er wieder eingeladen.
Das letzte Album "Budapest Concert"?
Es wurde ruhiger um Keith Jarrett, entsprechend groß war das Interesse bei Fans und Kritikern, als sein Label ECM für 2016 eine Europa-Tournee ankündigte, die ihn auch nach Budapest führte. Nun erscheint der Konzertmitschnitt aus dem Béla Bartók-Konzertsaal als Doppelalbum "Budapest Concert". Jarrett, der für dieses Konzert in das Land seiner Großeltern zurückgekehrt war, bezeichnet das Budapester Konzert als den "Goldstandard", an dem sich all seine bisherigen Solo-Konzerte zu messen hätten.
Just eine Woche vor der Veröffentlichung des neuen Albums sagte der 75-Jährige in einem Interview mit der "New York Times", dass er nie wieder live auf einer Bühne spielen werde. Nach zwei Schlaganfällen innerhalb von drei Monaten sei seine linke Körperseite immer noch so gelähmt, dass er vermute, mit seiner linken Hand maximal noch eine Tasse halten zu können. Nun also verabschiedet sich Keith Jarrett mit einem Live-Album wohl für immer von der Bühne.