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Klezmer-Star Giora Feidman im Interview

Rick Fulker / jm24. März 2016

Er ist der König des Klezmer: Giora Feidman. Im Exklusivinterview anlässlich seines 80. Geburtstags verrät er, worum es ihm in seiner Musik wirklich geht und was ihn an der heutigen Unterhaltungsmusik stört.

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Der Klarinettist Giora Feidman (Foto: Michael Kappeler dpa/lbn)
Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

DW: Sie wurden in Argentinien geboren, doch Ihre Eltern kommen ursprünglich aus Bessarabien, das liegt im heutigen Moldawien. Inwiefern haben Sie die dortige Musikkultur übernommen?

Giora Feidman: Die erste Musik, die noch im Bauch meiner Mutter an meine Ohren drang, war die Musik, die mein Vater aus Bessarabien mitbrachte. Ich habe diese Klänge sozusagen im Blut. So ähnlich ist es mit dem Tango. Wenn man in der argentinischen Gesellschaft aufwächst und lebt, absorbiert man so etwas ganz und gar. Die Musik eines Landes vermittelt das dortige Flair: Wenn ich zum Beispiel Schubert oder Wagner höre, fühle ich mich sofort nach Deutschland versetzt.

Die Musik meines Vaters aus Bessarabien und der Tango bildeten den Auftakt meines Lebens mit der Musik. Später schickte mich mein Vater dann zum Konservatorium, so wie es ihm auch sein Vater ermöglicht hatte. Ich fühle mich aber gar nicht so sehr mit dem Etikett "Klezmer" verbunden. Wenn ich Mozart, Piazzolla oder Gershwin spiele, fühle ich einfach nur die Musik. Mein Vater hat mir beigebracht, dass es in der Musik nur eine einzige Sprache gibt. Ein Neugeborenes würde zu seiner Mutter sagen: "Du möchtest mit mir kommunizieren? Ich kenne nur eine Sprache: Sing für mich!" Es kann nicht nach englischer Musik oder nach Schubertliedern verlangen. Das ist etwas, was wir oft vergessen.

In jüngeren Jahren haben Sie im Orchester des Teatro Colón in Buenos Aires gespielt, später dann im Israel Philharmonic Orchestra. Dabei haben Sie mit berühmten Dirigenten wie Leonard Bernstein, Rafael Kubelik, Eugene Ormandy und Zubin Mehta zusammengearbeitet. Hat eine von diesen großen Persönlichkeiten Sie besonders stark geprägt?

Ja, ja und nochmals ja. Kubelik und Bernstein waren sagenhaft! Unter ihrer Leitung habe ich mit sehr vielen großartigen Musikern spielen dürfen, mit den Geigern Yehudi Menuhin, David Oistrach und Jascha Heifetz, dem Cellisten Pablo Casals, den Pianisten Artur Rubenstein und Peter Serkin - und noch vielen anderen.

Die 18 Jahre im Israel Philharmonic Orchestra waren von unschätzbarem Wert für mich. Aber ich erinnere mich auch an einen ganz anderen, besonders prägenden Moment, den ich im Alter von 19 Jahren erlebt habe: Ich saß mit meinem Vater in der Oper "Der Rosenkavalier" von Richard Strauss, und plötzlich, mitten in diese unglaubliche Musik hinein, sagte mein Vater zu mir: "Weißt du was? Selbst wenn du Milliardär würdest, könntest du mir so einen Moment wie diesen nicht kaufen." Es ist ein ergreifender Augenblick, wenn man spürt: "Das ist Musik!"

Der Klarinettist Giora Feidman (Foto: Imago/U. Steinert)
Giora Feidman fühlt sich Deutschland besonders verbunden: Hier spielt er zwischen Säulen in BerlinBild: Imago/U. Steinert

In den letzten Jahrzehnten feiert der Klezmer eine Renaissance. Er wird überall gespielt und sogar ganze Festivals widmen sich dieser Musikform. Doch wie sah die Situation in Ihrer Jugend aus?

Oft sagen die Menschen, ich sei verantwortlich für das Revival des Klezmer. Und das akzeptiere ich. Aber ich bin nicht verantwortlich für all die unterschiedlichen Ergebnisse. Das Wort "Klezmer" leitet sich von den hebräischen Wörtern "kli" und "zemer" ab, was so viel heißt wie "Gefäß" oder "Instrument" des Liedes. Jeder Mensch ist ein solches Gefäß des Liedes. Jeder Mensch ist ein Sänger.

In der heutigen Klezmer-Szene gibt es einige Musiker, die einen eher traditionellen Ansatz verfolgen. Sie hingegen haben Klezmer mit Jazz und anderen Stilrichtungen kombiniert. Liegt es in der Natur des Klezmer, allumfassend zu sein? Oder ist es auch legitim, sich einem eher puristischen Stil zu widmen? Auch diese Menschen spielen schließlich mit Leib und Seele.

Giora Feidman (Foto: picture-alliance/dpa/T. Brakemeier)
Feidmann am 27.01.2000 im Berliner Reichstag bei einer Gedenkstunde des Bundestages an die Opfer des NationalsozialismusBild: picture-alliance/dpa/T. Brakemeier

Klezmer ist nicht untrennbar mit dem Judentum verbunden, denn jeder Mensch ist ein "Instrument des Liedes". Aber wenn man Klezmer mit dem Judentum in Zusammenhang bringen möchte, dann sehe ich folgende Verbindung: In den zweitausend Jahren der Diaspora waren Juden überall auf der Welt verteilt und hatten nur die Thora gemeinsam, die gemeinsame religiöse Schrift. Doch man kann die Thora nicht lesen, man muss sie singen.

Gleichzeitig haben Juden überall die Kultur der Orte aufgenommen, an denen sie lebten. Mein Vater ist mit den sogenannten Zigeunern groß geworden, wir waren also natürlich stark von ihrer Kultur beeinflusst. So gesehen, gibt uns der Klezmer eine gewisse Freiheit.

Musik bereichert unser Leben. Aber macht sie uns auch zu besseren Menschen? Ich denke in diesem Zusammenhang an das West-Eastern Divan Orchestra, das aus israelischen und palästinensischen Musikern besteht. Erklärtes Ziel dieses Orchester ist, durch die Musik Grenzen und Hass zu überwinden. Auf der anderen Seite wissen wir zum Beispiel, dass auch viele Nazis Musikliebhaber waren, vielleicht sogar genau die Musik hörten, die man selbst persönlich auch mag. Gibt es so etwas wie eine moralische Komponente von Musik? Oder ist sie wertneutral?

Musik kann Einheit schaffen. Sie ist eine Art wunderbarer Klebstoff. Wenn ich als Jude nicht "Ave Maria" spielen dürfte - was wäre das denn für eine Welt? Die Gesellschaft braucht geistige Nahrung. Man kann nicht ohne sie leben. Ich bin davon überzeugt, dass die Aggressionen in all den schrecklichen Konflikten heutzutage damit zu tun haben, dass die Menschen nicht genug geistige Nahrung erhalten. Die Religionen heute können sie uns nicht geben. Doch die Künste können es!

Vor ein paar Jahrzehnten gab es prinzipiell drei oder vier Musikgenres: Klassik, Jazz und Pop deckte praktisch alles ab. Heute gibt es bis zu vierzig unterschiedliche Musikrichtungen, unterteilt in kleinste Kategorien. "Das ist meine Musik", sagen dann manche Menschen und identifizieren sich darüber mit einer bestimmten Stilrichtung. Wer eine bestimmte Musik nicht mag, kann nicht dazugehören. Musik verbindet also nicht nur, sondern schließt auch aus und trennt Menschen voneinander. Oder sehen Sie das anders?

Was man heute hört, ist oft so laut. Das ist doch keine Musik! Vor ein paar Wochen war ich auf einer Hochzeit und war schockiert, was die jungen Leute dort gehört und gesungen haben. Das war wie Gift für meine Ohren. Die Liedtexte waren auch schrecklich. Solche Inhalte werden im Fernsehen propagiert. Und das Fernsehen in Israel ist entsetzlich. Ein Freund hat mir erzählt, dass das Ganze daran liegt, dass die Sponsoren ihre Produkte auf junge Konsumenten zwischen 15 und 21 Jahren ausrichten. Die Devise lautet: Wenn sie diese Musik mögen, dann schauen sie auch das Programm. Man hat es hier also mit der Folge einer Gesellschaft zu tun, die hauptsächlich auf Profit setzt. Wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht das Bedürfnis der Seele nach geistiger Nahrung vernachlässigen.

Giora Feidman (Foto: imago/ Melanie Bauer)
Der "König des Klezmer"Bild: Imago/M. Bauer

Jedes Mal, wenn ich eine Sonate von Beethoven spiele, ist es einmalig. Ich bin kein Abspielgerat, wie eine CD. Für mich persönlich ist jeder Auftritt wie der erste in meinem Leben. Ich weiß nie, was meine Seele an diesem Tag singen wird. Es wird bestimmt etwas anderes sein als das, was sie gestern gesungen hat. Wenn ich etwas von meiner Seele offenbare, wird niemand über meine Spieltechnik oder meine Kleidung nachdenken.

Um Musik zu vermitteln, muss man fühlen, was das Publikum fühlt. Ich versuche, den Klang meiner innersten Stimme in mein Instrument zu legen. Die Klarinette ist das Mikrofon meiner Seele. Ich verstehe zwar, dass Menschen sich mit einem bestimmten Musikstil identifizieren, und ich werde es auch nicht kritisieren. Aber ich bin eben anders. Ich bin so, wie ich bin. Und Punkt.