Knappe Mehrheit für Stuttgart 21
7. August 2011Kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg Ende März war die Stimmung noch klar gegen "Stuttgart 21" - zumindest ergaben dies Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen: 42 Prozent der Befragten waren demnach gegen das Projekt, 37 Prozent dafür. Doch Meinungen und Stimmungen können sich schnell ändern, das zeigt auch die aktuelle Umfrage des Instituts TNS Infratest Politikforschung. Nach dem Stresstest und dem kürzlich unterbreiteten Kompromissvorschlag des Streitschlichters Heiner Geißler (CDU) sprechen sich wieder mehr Baden-Württemberger für den Bau aus: etwas mehr als die Hälfte ist dafür, 35 Prozent sind dagegen und 15 Prozent haben keine Meinung. Das gab die Freie Universität Berlin, die die Umfrage in Auftrag gegeben hatte, am Sonntag (07.08.2011) bekannt.
Größere Unterschiede gibt es zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien: Während 73 Prozent der CDU-Anhänger den Bau wollen, sprechen sich nur 51 Prozent der SPD-Sympathisanten und 25 Prozent der Grünen-Anhänger dafür aus.
Schlichter-Konzept überzeugt viele
Den Vorschlag Heiner Geißlers, der eine Kombination aus Kopf- und Tiefbahnhof vorgeschlagen hatte, befürworten 51 Prozent der circa 1000 Befragten - 69 Prozent sprechen sich zumindest für eine ernsthafte Verhandlung des Konzepts aus. Der Fernverkehr soll demnach unter der Erde verlaufen, während die Regionalbahnen weiterhin den Kopfbahnhof nutzen. Auch 44 Prozent der der CDU- und 42 Prozent der FDP-Anhänger, die mehrheitlich für den ursprünglichen Plan des neuen Bahnhofs sind, unterstützen Geißlers Vorschlag. Im Großraum Stuttgart liegt die Zahl noch höher: 58 Prozent befürworten das Konzept.
Die wachsende Zustimmung liege auch am gesellschaftlichen Harmoniebedürfnis, meint der Politikwissenschaftler Peter Grottian von der Freien Universität Berlin. "Konfrontation, Erschöpfung und Friedenssehnsucht sind näher beieinander, als manche wahrhaben wollen. Alle wollen den Mühlstein 'Stuttgart 21' irgendwie mit Anstand vom Halse haben."
Zwischen Bundes- und Landespolitik herrscht jedoch immer noch Unstimmigkeit, was Geißlers Kompromissvorschlag angeht. Während Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Vorschlag "auf Tragfähigkeit" prüfen lassen will und ihn "sehr ernst" nimmt, wie er der "Welt am Sonntag" mitteilte, erteilte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer der Idee sofort eine Absage: "Der Vorschlag eines kombinierten Tief- und Kopfbahnhofs ist uralt und längst verworfen", sagte der CSU-Politiker dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Geißler und die Gegner des neuen Bahnhofs könnten hier nicht noch einmal die Regeln ändern.
Doch an denen will auch Kretschmann festhalten. Zunächst werde der Landtag nach der Sommerpause über das Kündigungsgesetz zur Landesbeteiligung an den Kosten entscheiden und dann könne eine Volksabstimmung folgen. Daran werde sich nichts ändern. Der Ministerpräsident betonte jedoch auch, dass der Kombi-Lösung vor 15 Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen eine Absage erteilt wurde - und vor allem deshalb, weil sie zu teuer gewesen sei. Den Vorschlag könne man nun nicht mehr nur unter finanziellen Aspekten betrachten, sondern müsse alle Gesichtspunkte prüfen.
Nächste Diskussionsrunde wartet bereits
In der neuentfachten Debatte hat sich auch Grünen-Parteichef Cem Özdemir zu Wort gemeldet und den Gegnern des Projekts Hoffnung gemacht. "Mal abwarten. Die Messe ist noch nicht gelesen", sagte Özdemir dem "Tagesspiegel am Sonntag". Denn bevor man die größte Baustelle Europas beginne und einfach so fünf Milliarden Euro verbuddele, "sollte man als sparsamer Schwabe sorgfältig prüfen", sagte der in Baden-Württemberg geborene Politiker und lobte Geißlers Vorschlag.
Auch Politikwissenschaftler Grottian glaubt, dass das Kombi-Konzept gute Chancen hat. Es hole einerseits die SPD mit ins Boot und erlaube andererseits auch der Bahn, ihr Gesicht zu wahren. Auch die Bundesregierung und vor allem die CDU könnten davon profitieren, ist sich Grottian sicher, auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das "doppelt listige Geschenk" des Schlichters offenbar noch nicht richtig verstanden habe: Wer in Stuttgart Frieden stifte, mache auch "eine prinzipenfeste Machtoption für Schwarz-Grün möglich", meint Grottian.
Autorin: Nicole Scherschun (dpa, dapd, afp)
Redaktion: Thomas Grimmer