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"Konterrevolution" am Nil?

15. Juni 2012

Nach der gerichtlichen Annullierung der ägyptischen Parlamentswahl mehren sich die kritischen Stimmen. Linksgerichtete und liberale Parteien in Kairo sprechen von "Konterrevolution". Die EU verlangt Klarheit.

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Sicherheitskräfte vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts (Foto: DW)
Bild: DW

Angesichts der politisch einschneidenden Urteile des ägyptischen Verfassungsgerichts hat die Europäische Union Klarheit gefordert. Ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton forderte in Brüssel Erklärungen von der ägyptischen Regierung über die Bedeutung der Gerichtsentscheidungen, wonach die Parlamentswahl vor vier Monaten auf verfassungswidriger Grundlage beruhte. Der Sprecher verlangte zugleich eine "faire und transparente" Präsidentenwahl an diesem Wochenende und einen raschen Übergang zu einer Zivilregierung in Ägypten. Die EU werde die Stichwahl "sehr genau beobachten". Es müsse "eine starke Antwort auf die Forderung des Volkes nach Freiheit, Demokratie und wirtschaftlichen Chancen geben".

US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte, die USA erwarteten von Kairo ein Festhalten am Demokratisierungsprozess. Die Macht müsse vollständig an eine demokratisch gewählte Zivilregierung übertragen werden. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte ausdrücklich eine Fortsetzung der Demokratisierung Ägyptens. Es dürfe dort jetzt kein politisches Vakuum geben, erklärte sein Sprecher in Berlin.

Vorwurf Konterrevolution

Ägypten vor dem Chaos?

Derweil bezichtigte ein Zusammenschluss linksgerichteter und liberaler Parteien die Armee der Konterrevolution. In einer Erklärung hieß es, das "konterrevolutionäre Szenario" ergebe sich aus einer Reihe von Vorfällen.

So seien am 2. Juni zunächst mehrere Angeklagte im Prozess gegen den im Februar 2011 gestürzten Machthaber Husni Mubarak freigesprochen worden. Zudem habe das Justizministerium die Militärpolizei und den Militärgeheimdienst wieder zur Festnahme von Zivilisten ermächtigt. Dieses Recht hatten diese mit der Aufhebung des Ausnahmezustands Ende Mai zunächst verloren.

Dazu passe nun die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom Donnerstag, die Zusammensetzung des Parlament für illegal und die Kandidatur des früheren Vertrauten von Ex-Staatschef Husni Mubarak, Ahmed Schafik, bei der anstehenden Präsidentschaftsstichwahl an diesem Wochenende für rechtens zu erklären. All dies zeige, dass der Oberste Militärrat - der nach Mubaraks Sturz die Macht übernahm - die alte Herrschaft wiederherstellen wolle. Zu den Unterzeichnern der Erklärung gehören unter anderem die Richtungspartei, die Nationale Front für Gerechtigkeit und Demokratie sowie die Koalition der revolutionären Jugend.

Die Muslimbruderschaft beschuldigte in einer eigenen Erklärung die Verfassungsrichter, die Fortschritte seit dem Sturz Mubaraks zunichte zu machen.

Ägypter verunsichert

Angesichts der Unsicherheiten wollen viele Ägypter am Samstag und Sonntag sich der Qual der Wahl entziehen. Sie haben zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Ihr Argument: Sowohl Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft als auch Ex-Ministerpräsident Schafik seien "machtgierig, korrupt und verlogen". Beide Kandidaten hatten im ersten Wahlgang weniger als ein Viertel der Stimmen erhalten und beide stehen für zwei Strömungen der ägyptischen Gesellschaft, die unversöhnlich erscheinen.

Außerdem haben sich viele Bürger kritisch geäußert, weil niemand weiß, wann die vom Gericht annullierte Parlamentswahl wiederholt werden soll. Zudem ist unklar, welche Befugnisse die neue Verfassung dem Präsidenten geben wird. Selbst die Frage, wer diese Verfassung formulieren wird, ist nach den jüngsten Gerichtsentscheiden wieder offen.

Nach dem Sturz von Mubarak hatte es keine Justizreform gegeben. Richter waren nicht entlassen worden. Der Militärrat hatte aber zugesagt, am 1. Juli die Macht an den neuen Präsidenten abzugeben.

hp/sti (dpa, afp, rtr, dapd)