Corona-Impfung im sozialen Brennpunkt
7. Mai 2021Der Hochhauskomplex steht in der Landschaft wie ein gigantisches Raumschiff, das falsch abgebogen und auf der grünen Wiese im Süden Kölns gelandet ist. Im Jahr 1973 wurde der Beton-Koloss am Rand des Dorfes Meschenich errichtet. Heute leben hier am sogenannten Kölnberg etwa 4000 Menschen aus 60 Ländern.
An diesem Freitag Morgen sind einige der Hochhausbewohner besonders früh aufgestanden. Mit weißen Zetteln und gelben Impfpässen in der Hand pilgern sie in kleinen Grüppchen die Landstraße hinab zum Caritas-Zentrum. Sie reihen sich ein in die Menschenschlange, die sich schon um acht Uhr vor dem Backsteinhaus mit den grünen Schlagläden bildet.
"Man muss Angst haben, sich anzustecken"
Der weiße Zettel in der Hand von Sahin Aydogan ist bereits unterschrieben. Es ist die Einwilligungserklärung zur Corona-Schutzimpfung. "Ich will mich impfen lassen, damit ich mich wieder sicherer fühlen kann", sagt der 42-Jährige. "Wir wohnen hier eben in einer Gegend, wo alles sehr beengt ist. Im Aufzug, im Treppenhaus oder beim Einkaufen muss man Angst haben, sich mit Corona anzustecken."
Am Kölnberg hat die Pandemie härter zugeschlagen als in reicheren Gegenden Deutschlands. Er kenne viele, die Corona hatten, sagt Aydogan. Sich aus dem Weg zu gehen ist hier oft schwierig, viele Menschen leben in Armut, Familien mit vier Kindern auf 50 Quadratmetern. Gut 400 Euro zahlt der Staat für den Lebensunterhalt von Langzeit-Arbeitslosen, für Flüchtlinge sind es etwa 350 Euro. Hinzu kommt, dass viele Bewohner erst seit Kurzem in Deutschland sind und sich schwer zurechtfinden im Wirrwarr der Corona-Regeln.
Feuerlöscher im sozialen Brennpunkt
Das kann Michael Kliem bestätigen, der hier eine Hausarztpraxis betreibt. "Viele Menschen am Kölnberg leben in prekären Verhältnissen", sagt er, nachdem er sich aus seinem Schutzanzug geschält und seine Maske abgenommen hat. Kliem ist heute für die Impfungen verantwortlich, gemeinsam mit dem Caritas-Wohlfahrtsverband und der Stadt Köln hat er den Impftermin organisiert.
Gemäß der offiziellen Impfreihenfolge in Deutschland wären die jüngeren, nicht einschlägig vorerkrankten Patienten Kliems eigentlich noch nicht an der Reihe. Doch in Köln will man in Stadtteilen mit besonders hohen Infektionszahlen möglichst alle impfen und hat sich deshalb eine Ausnahmegenehmigung geholt und zusätzlichen Impfstoff gesichert. Die Stadt spricht von einem Pilotprojekt zur Gefahrenabwehr, andere Städte wollen nachziehen. "Das hilft uns, das Infektionsgeschehen einzudämmen", sagt Kliem. "Wir sind froh, dass unsere Patienten kommen."
"BioNTech ist der beste"
So wie die 19-jährige Angelina, die nur ihren Vornamen nennen möchte. "Ich will das nicht wegen Urlaub oder so", sagt sie, "ich will mich einfach geschützter fühlen. Viele Menschen laufen ohne Maske rum und halten sich nicht an die Regeln. Das erlebe ich als Verkäuferin ständig." Auf Angelinas weißem Zettel steht, dass sie den Impfstoff von Johnson & Johnson erhalten soll. "Das ist gut, weil man nur eine Spritze braucht", sagt sie.
Über die Stärken und Schwächen der Impfstoffe wird in der Schlange der Wartenden diskutiert wie sonst über Fußballstars. "BioNTech ist schon der beste", sagt ein junger Mann mit grauem Kapuzenpulli. "Noch besser als Moderna", meint ein anderer, ebenfalls im grauen Kapuzenpulli. Und AstraZeneca? "Ganz okay, aber nicht so toll."
Angst vor Nebenwirkungen
Unruhe kommt auf. Die meisten hier waren davon ausgegangen, dass jeder Meschenicher geimpft wird, und zwar mit dem Moderna-Impfstoff. Jetzt heißt es: Nein, nur wer in bestimmten Straßen am sozialen Brennpunkt wohnt, wird geimpft, und zwar mit Johnson & Johnson. Doch der Andrang ist groß, deshalb fordert die Caritas spontan eine Ladung AstraZeneca an, um alle Wartenden impfen zu können.
"Dann komm ich lieber morgen nochmal wieder", sagt Hediye Batici und tritt ein paar Schritte aus der Wartschlange heraus. "Ich habe mich informiert und ich möchte BioNTech", sagt sie. "Schließlich bin ich erst 47 Jahre alt." Die Impfstoffe von AstraZeneca und Johnson & Johnson haben in Deutschland weiter einen schlechten Ruf, die Angst vor seltenen Blutgerinnseln als Nebenwirkung ist groß.
"Wer heute geht, kommt morgen nicht wieder"
Unter den Wartenden fällt ein Mann besonders auf, weil fast jeder ihn begrüßt. Amir Rakhsh-Bahar trägt eine schwarze Steppjacke, unter seiner Maske scheint er meistens zu lächeln. Seit elf Jahren ist er Sozialarbeiter im Jugendzentrum auf der anderen Straßenseite. Die Impfung hat er schon länger hinter sich, eine Corona-Infektion vor einem halben Jahr auch. "Meine Kolleginnen und ich haben den Leuten beim Ausfüllen von 150 Anträgen geholfen", sagt er. Die weißen Zettel. "Aber alle für Moderna." Die könne man jetzt wegschmeißen.
Rakhsh-Bahar ist genervt vom Hin und Her mit den Impfstoffen. "Wer heute geht, der kommt morgen bestimmt nicht wieder", sagt er. Der 33-Jährige ist selbst am Kölnberg aufgewachsen, scheint fast jeden hier zu kennen. Vom Caritas-Zentrum geht er hinüber zum Hochhauskomplex, vorbei am Kunstrasen-Bolzplatz, für den er jahrelang Spenden gesammelt hat. Ein Junge mit Boxhandschuhen steht an der Ecke. "Bist Du auch wirklich nicht rausgegangen in der Quarantäne?" ruft Rakhsh-Bahar ihm zu. "Ja, ich schwör's", kommt pflichtschuldig die Antwort.
Die Stigmatisierten
Der Sozialarbeiter zeigt auf einen Balkon im fünften Stock. "Da bin ich großgeworden." Mit dumpfem Knall kracht plötzlich Müll auf den Asphalt. Irgendwer hat ihn aus einem der oberen Stockwerke geworfen. Das sei leider Normalität, erklärt Rakhsh-Bahar. "Das soll keine Entschuldigung sein, aber man braucht halt 20 Minuten, wenn man den Müll runterbringt. Und jetzt muss man im Fahrstuhl noch Angst haben, sich dabei mit Corona anzustecken."
Der Kölnberg gilt als sozialer Brennpunkt, wie es ihn in fast jeder deutschen Großstadt gibt. Doch der Beton scheint hier besonders bedrohlich auszusehen. Wenn in einem deutschen Fernsehfilm ein Schauplatz gesucht wird für Drogenhandel, Bandenkriminalität oder Prostitution, dann kommen die Produktionsfirmen gern hierher. Auch die Reportagen über den Kölnberg sind meist wenig schmeichelhaft. Kaum einer vergisst, die vielen Ratten zu erwähnen oder die Leiche, die im Jahr 2014 aus dem neunten Stock geworfen wurde. Viele Anwohner reagieren deshalb ablehnend bis feindselig, wenn sie Kameras sehen oder Pressevertreter. Wer hier lebt, an dem klebt ein Stigma.
Stumpi hat keinen Spaß mehr
Rakhsh-Bahar und seine Kolleginnen im Jugendzentrum wollen dafür sorgen, dass die Kinder vom Kölnberg trotzdem eine Perspektive haben. In normalen Zeiten bieten sie Spiel und Spaß, Betreuung und Verpflegung. Und in der Pandemie? "Unser Ziel ist, zumindest die Hausaufgabenbetreuung zu sichern", sagt er. "Das ist sehr schmerzhaft, wenn man einem Achtjährigen sagen muss: 'Nein, Du darfst hier nicht spielen.' Das bringt man kaum übers Herz. Es geht um die Grundbedürfnisse von Kindern."
Im Jugendzentrum sitzen jeweils fünf Kinder pro Raum an Einzeltischen. Ein Sechsjähriger, den alle hier Stumpi nennen, beugt sich über seine Hausaufgaben. Reihe um Reihe schreibt er den Buchstaben K in sein Heft, neben Bilder von Kerze und Kaktus. "Ist nicht schwierig", meint er. "Macht aber auch keinen Spaß."
Vor der Tür des Jugendzentrums wartet Nasir Hassan Khalef mit zweien seiner Kinder auf die Ausgabe von Essensspenden. Der 35-Jährige kommt aus Sindschar im Nordirak, lebt seit vier Jahren in Deutschland. Ob er auch noch rübergeht zum Impfen? "Nein, geht nicht", sagt Khalef. Er, seine Frau und drei von sechs Kindern hatten gerade erst Corona. "Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen, alles."
"Eine Menge Leute sind noch nicht geimpft"
Vor dem Caritas-Zentrum ist die Schlange mittlerweile kürzer geworden. Nach drei Stunden Warten sind auch Angelina und Sahin Aydogan dran. Jetzt geht alles schnell. Desinfektion, Spritze, Pflaster, wieder raus an die frische Luft. Angelina atmet durch, trotz Maske. "Ich fühle mich befreit", sagt sie. "Man hat es jetzt endlich hinter sich und kann nach vorne schauen, muss keine Angst mehr haben bei der Arbeit. Das geht ja jetzt schon anderthalb Jahre so."
Auch Sahin Aydogan ist voller Hoffnung. "Ich bin zur Zeit arbeitssuchend", sagt er. "Wegen Corona ist es noch schwieriger geworden, einen Job zu finden. Vielleicht habe ich bessere Chancen, jetzt, wo ich geimpft bin." Und dann fügt er hinzu: "Die sollten diese Aktion noch ein paarmal wiederholen. Eine Menge Leute hier sind noch nicht geimpft." Doch noch ist nicht klar, ob das Kölner Pilotprojekt fortgesetzt werden kann. Man habe schlicht nicht genug Impfstoff, gab die Stadt Köln am Freitagabend bekannt.