Lilo Pulver wird 90
11. Oktober 2019Barfuß erstürmt Liselotte Pulver einen runden Esstisch, an dem sowjetische Funktionäre sitzen. Eine Band spielt den "Säbeltanz" von Aram Chatschaturian, Lilo tanzt ausgelassen mit Fackeln in der Hand und bringt den Restaurantsaal zum Beben - dabei fällt ein Bild von Chruschtschow aus dem Rahmen und bringt dahinter ein Stalin-Porträt zum Vorschein.
Im Jahr 1961 eine in vielerlei Hinsicht unerhörte Filmszene. "Eins, zwei, drei" ist eine bissige Komödie von Billy Wilder, die sich das geteilte Berlin im Kalten Krieg vornimmt. Dabei werden die Dreharbeiten von der Weltgeschichte überrannt: dem Mauerbau. Eine Herausforderung für die Filmcrew, schließlich ist das fortan gesperrte Brandenburger Tor eines der Motive. So muss der Dreh nach München verlegt und das Berliner Wahrzeichen im Studio nachgebaut werden.
Doch der Film floppt an den Kinokassen: Über ein geteiltes Berlin will zunächst niemand lachen. "Nicht der Humor ist böse. Das Thema ist brutal. Das Thema hat einen solchen Humor verlangt", sagte Liselotte Pulver rückblickend in einem Interview mit der Berliner Morgenpost 2011. "Hinter den halsbrecherischen Wortgefechten steht die gefährliche Wahrheit der damaligen Situation. 'Eins, zwei, drei' ist kein Lustspiel, sondern ein gefährlicher Film." Heute ist der Film gerade deswegen Kult - und Lilo Pulver eine Figur der internationalen Filmgeschichte.
Unwiderstehliches Lachen
Als Billy Wilder sie für die Rolle des blonden Fräulein Ingeborg besetzt, steht Liselotte Pulver auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Es ist ihr authentisches, fröhliches Lachen und ihr unwiderstehliches Temperament, das sie zu einer der gefragtesten Schauspielerinnen Deutschlands macht. Ende der 1950er Jahre hat sie bereits mit allen damaligen Schauspielgrößen vor der Kamera gestanden: Hardy Kruger, O.W. Fischer, Horst Buchholz und Hanns Lothar.
Geboren wird Lilo Pulver am 11. Oktober 1929 in Bern. Mit 20 Jahren steht sie schon auf der Bühne. Und bald auch vor der Kamera. Ihren ersten Film "Föhn" (1950), ein Bergfilmdrama mit Hans Albers, dreht sie mit gerade einmal Anfang 20. Zuvor hat die gebürtige Schweizerin in Bern und Zürich Theater gespielt. "Die schönsten Erinnerungen habe ich eigentlich an den allerersten Film", sagte Pulver in einem ARD-Interview. Eine aufregende Zeit, insbesondere weil die Premierentour die junge Schweizerin, die den Zweiten Weltkrieg nur aus der Ferne mitbekommen hat, durch ein zerstörtes Nachkriegsdeutschland führt.
Pulver dreht wie am Fließband bis zu vier Filme im Jahr, viele davon gehen ins kollektive deutsche Filmgedächtnis ein, wie der Liebesfilm "Ich denke oft an Piroschka" (1955) oder die Komödie "Das Wirtshaus im Spessart" (1958). Die Filmkritiker sind nicht immer begeistert, das Publikum hingegen liebt Pulvers Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Obwohl sie mit ihrer knappenhaften Figur nicht dem damaligen weiblichen Schönheitsideal entspricht, wird sie zum europäischen Filmstar.
Verpasste Hollywood-Karriere
1958 klopft Hollywood an: Douglas Sirk fragt sie an für eine ernsthafte Rolle in "Zeit zu leben und Zeit zu sterben". Liselotte Pulver dreht mühelos in englischer Sprache. Dass sie Sprachtalent besitzt, hatte sie bereits in "Ich denke oft an Piroschka" bewiesen, wo sie mit ungarischem Akzent spielte. Doch der Film wird kein Erfolg. Gleichzeitig verhindern europäische Anfragen und Verträge weitere Hollywood-Drehs. So muss sie die Hauptrolle in "Ben Hur" aus Termingründen absagen, ebenso wie in "El Gid" - stattdessen übernahm Sophia Loren diesen Part. Ob es die Chancen ihres Lebens waren? Damals habe sie sich schon sehr geärgert, erinnert sich Liselotte Pulver im ARD-Interview. "Dann wäre das wahrscheinlich alles ganz anders gelaufen. Vielleicht auch gar nicht gut, das weiß man alles nicht. Ich weiß nicht, ob ich ein Typ gewesen wäre für Amerika."
Auf den schmerzlichen Knick in der US-Karriere folgt ein unerwartetes, privates Glück. Bei den Dreharbeiten zu "Page" lernt Liselotte Pulver ihren zukünftigen Mann Helmut Schmid kennen. Während einer Fechtszene trifft sie das erste Mal auf ihren "Traummann" - und verliebt sich "unsterblich".
Pulver soll sich regelmäßig in ihre Filmpartner verliebt haben, allerdings bis dahin ohne Happy End. Mit Helmut Schmid ist es anders: Die beiden heiraten 1961, ziehen in ein Haus am Genfer See und werden Eltern von einem Sohn und einer Tochter. Mehrfach steht das Traumpaar gemeinsam vor der Kamera. "Man kannte sich so gut, das man einfach natürlicher war, als mit einem fremden Schauspieler. Das war natürlich das Größte, mit ihm zu spielen", erinnert sie sich.
Star aller Generationen
Als in Deutschland die Stimmung von der übermütig fröhlichen Nachkriegszeit zur kritischen 1968er-Generation überschlägt, ist die Schauspiel-Ikone Pulver nicht mehr gefragt. Filmangebote bleiben aus, stattdessen spielt sie nun häufiger in TV-Produktionen mit. Der französische Autorenfilm "Die Nonne" (1966) bildet da eine Ausnahme. Hier spielt sie an der Seite von Anna Karina eine lesbische Äbtissin. Die beiden Schauspielerinnen werden bei den Filmfestspielen in Cannes gefeiert, der Film jedoch anschließend verboten.
Für die Nachkriegsgeneration ist sie ein Kino-Star, für die Generation der 1980er Jahre ein Star der Kinder. In der Vorschulserie "Sesamstraße" tritt sie von 1978 bis 1985 als "Lilo" neben den Puppen Tiffy, Finchen und Samson auf.
Privat hat Pulver mit schweren Schicksalsschlägen zu kämpfen. In kurzer Zeit verliert sie zunächst ihre damals 21-jährige Tochter, dann ihren 67-jährigen Ehemann. Mit der rund 50-teiligen Fernsehserie "Mit Leib und Seele" beendet Lilo Pulver, damals rund 70 Jahre alt, ihre Karriere. Heute lebt die Schauspiel-Ikone zurückgezogen in ihrer Geburtsstadt Bern.