Auf dem Weg zu einer neuen Sprache
7. April 2017Während einer Spanienreise fiel mir auf einem Flohmarkt ein altes Geschichtsbuch in die Hände. Es stellte Spanien als "Bollwerk des Christentums" dar. Der Autor schrieb, die Spanier hätten "mit ihrer selbstlosen Brust Europas Herz vor den Schwertern der Araber" geschützt und somit einen entscheidenden Einfluss auf die Weltgeschichte ausgeübt. Das Schulbuch erweckte auch deshalb mein Interesse, da es mich an mein Geburtsland erinnerte - Polen.
Ein wesentlicher Teil der von Nostalgie durchtränkten politischen Mainstream-Sprache im heutigen Polen ist der nationale Mythos der "belagerten Festung". Dieser Mythos vereinfacht die Realität, indem er die Außenwelt als Bedrohung darstellt: Das Recht ist immer auf "unserer" Seite (unseres Volkes), und alle "anderen" sind Feinde, die Schrecken und Zerstörung bringen.
Granada als Erleuchtung
In meinen Augen ist das gegenwärtige Spanien, insbesondere Andalusien und die Stadt Granada, eine fruchtbare Inspiration auf der Suche nach einer neuen politischen Sprache. Während in Polen der Mythos der "belagerten Festung" blüht und gedeiht, wie übrigens auch in vielen anderen europäischen Ländern, haben die Bewohner Spaniens Eindrucksvolles vollbracht. Das Geschichtsbuch, das ich in Händen hielt, ist nämlich heute lediglich eine Kuriosität, die auf dem Flohmarkt wenige Cent wert ist.
Diesen Text schreibe ich in Granada. Mein zweimonatiger Aufenthalt hier ist eben kein Zufall. Einer meiner Schwerpunkte ist die EUtopie (griech. der gute Ort), das Projekt einer europäischen Republik der Regionen, gestützt auf die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, kultureller Vielfalt und Gleichheit aller Bürger. Granada eignet sich für mich als Hauptstadt der EUtopie. Warum?
Die Geschichte der Stadt ist beeindruckend. Das zentrale Element ihres kollektiven Gedächtnisses ist die erfolgreiche Koexistenz verschiedener Religionen (Juden, Christen und Muslime) im Mittelalter und an der Schwelle zur Renaissance. Die malerische Altstadt und der über ihr thronende Nasridenpalast mit seiner filigranen Architektur sind Zeugnisse jener Vergangenheit.
Aber das gegenwärtige Granada ist keineswegs ein lebloses Freilichtmuseum. Der sich auch heute noch dynamisch entfaltende Stadtraum ist geradezu prädestiniert, um trivialisierende Vereinfachungen zu demaskieren. Umso mehr, da die Beliebtheit der kunterbunten Vielfalt Granadas unter Touristen die Bewohner daran erinnert, dass jedwede Aufteilung in "wir" und "sie" auch den kommerziellen Erfolg der Stadt begraben würde.
Die Vergangenheit als offene Erzählung
Ein spektakuläres Beispiel des erfolgreichen Aushandelns der Wirklichkeit und der Gestaltung eines städtischen kollektiven Gedächtnisses ist das Centro Cultural CajaGRANADA, Memoria de Andalucía. Das Zentrum entstand 2009. Die Dauerausstellung ist in vier thematische Bereiche aufgeteilt: Landschaftsvielfalt, Lebensformen, städtischer und ländlicher Raum, Kunst und Kultur. Im Mittelpunkt stehen interaktive Exponate: Man kann sie nicht nur ansehen, sondern auch anfassen, anhören und teilweise sogar multimedial mitgestalten.
Beim Spaziergang durch das Museum trifft man virtuell auf Menschen, die zu verschiedenen Zeiten in Andalusien gelebt haben. Auf lebensgroßen Bildschirmen erscheinen arabische Könige, neuzeitliche Bauern, antike Stadtbewohner, Mönche und Handwerker. Jeder hat seine Geschichte und erzählt sie einfach.
So lädt das Zentrum dazu ein, eine Art Archäologie des Gedächtnisses zu betreiben. Die Interaktivität der Ausstellung hat ihren Sinn: Jeder Besuch erlaubt es, die Vergangenheit auf eine neue Weise zu ordnen, den verschiedenen Bedürfnissen und sogar Stimmungen des Besuchers entsprechend. So entsteht Raum für Vielstimmigkeit. Ähnlich wie die persönliche Erinnerung eines jeden von uns wird das kollektive Gedächtnis zu einer offenen Erzählung.
Programm für heute
Der Fokus auf die guten Erfahrungen der multikulturellen Vergangenheit in Granada lehrt auf glaubhafte und unaufdringliche Weise Offenheit gegenüber dem Anderen und fördert Engagement gegen Ausgrenzung. In einer Zeit, in der die Sprache oft ein Werkzeug zu politischer Manipulation ist, wird auf diese Art dazu ermuntert, nach neuen Narrativen zu suchen. Schließlich sind Begriffe wie "Nation" und "Identität" dem 19. Jahrhundert entwachsen - in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext, den es heute nicht mehr gibt.
Wenn ich mit Bewohnern Granadas spreche, aber auch mit vielen meiner Nachbarn in Berlin oder Warschau, so habe ich den Eindruck, dass diese Begriffe mehr Probleme als Vorteile schaffen. Ist meine Heimat denn wirklich der Staat, in dem ich geboren wurde? Oder ist es die Stadt? Die Region? Oder etwa die Gegend, aus der meine Eltern stammen? Aber was, wenn beide nicht aus ein und demselben Ort kommen? Eine Sprache, die für den Flohmarkt taugt, vermag es nicht zu beschreiben, wie wir heute leben. Es lohnt sich, gemeinsam nach einer neuen Sprache zu suchen. Aus der Perspektive Granadas gibt es Aussicht auf Erfolg.
Übersetzt aus dem Polnischen von Simone Falk in Zusammenarbeit mit dem Autor
Stanisław Strasburger wurde in Warschau geboren. Er ist Schriftsteller und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind kollektives Gedächtnis, Migration, Multikulturalität und EUtopie. In Buchform sind von ihm erschienen: „Besessenheit.Libanon" (2015 auf Polnisch, 2016 auf Deutsch) und „Der Geschichtenhändler" (2009 auf Polnisch, 2014 auf Arabisch und geplant für 2017 auf Deutsch). Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und Beirut.