Jedes Vertrauen verspielt
20 Jahre sind seit dem Bericht des Boston Globe über den sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester der Erzdiözese Boston vergangen. In der Zwischenzeit wurde der Katalog des Schreckens immer dicker, und die Zahl der von Kirchenleuten missbrauchten Kinder auf der ganzen Welt ist unermesslich.
Jahr für Jahr sind die Zahlen gestiegen, während die Opfer weiterhin Wiedergutmachung von der Kirche forderten. Die Öffentlichkeit ist inzwischen abgestumpft angesichts des Ausmaßes der Verbrechen. Ab und an wird ein neuer Bericht vorgelegt, wie vor einigen Tagen in München, der es dann in die Schlagzeilen schafft, weil er die Dimension und Mitverantwortung selbst höchster Kirchenkreise für das Leid sichtbar macht.
Verschwörung des Schweigens
In Irland wurden tausende Kinder, die unter ungeklärten Umständen in den berüchtigten Heimen für unverheiratete Mütter starben, in anonymen Gräbern beigesetzt. Der weit verbreitete Missbrauch von Kindern in katholischen Internaten in Kanada führte zu mindestens 6000 Todesfällen. Viele dieser Opfer wurden ebenfalls in anonymen Gräbern entdeckt. In Frankreich schätzte eine unabhängige Studie im vergangenen Jahr, dass Priester und Mitarbeiter der katholischen Kirche seit 1945 mehr als 300.000 Kinder missbraucht haben.
Aber es ist nicht nur der Missbrauch allein, der an der Geschichte der kirchlichen Sexualverbrechen an Minderjährigen so zutiefst empörend ist: Die Kirche hat mit ihrem skandalös schleppenden Tempo der Aufarbeitung zugleich deutlich gemacht, dass sie nicht mit staatlichen Behörden bei der Untersuchung dieser Verbrechen kooperieren will. Ihre institutionelle Verschwörung des Schweigens - der Schutz des Beichtgeheimnisses und die Weigerung, Akten zu veröffentlichen oder sie den Behörden zu übergeben - wurden erneut durch die Enthüllungen aus München bestätigt; Enthüllungen, die darüber hinaus den emeritierten Papst Benedikt XVI. und ehemaligen Erzbischof von München, Joseph Ratzinger, in vier Missbrauchsfälle verwickeln.
Führende Köpfe der katholischen Kirche haben Verbrechen gegen Kinder möglich gemacht und vertuscht. Wir wissen jetzt, dass Papst Benedikt von Missbrauch in seinem früheren Bistum wusste, die Versetzung mindestens eines Missbrauchstäters erlaubte (der dann prompt rückfällig wurde) und genau das zunächst abstritt. All das war derselbe Mann, der in Rom für die Aufklärung, Wiedergutmachung vergangener Verbrechen und die Verhinderung künftiger Verbrechen verantwortlich war.
Die Verantwortung der Politik
Auch wenn die Reaktionen der Bischöfe jedes Mal erbärmlich dürftig und inkonsequent waren, so ist es ihnen doch bisher fast überall gelungen, klare Reaktionen der nationalen Politik zu verhindern. Und obwohl die Schreckensgeschichten überall identische Muster aufweisen, hat die Kirche nicht viel mehr als ein paar laue Bekundungen ihrer Reue gezeigt und rein kosmetische Änderungen in ihrem internen Regelwerk vorgenommen.
Vor diesem Hintergrund ist die Weigerung der spanischen Bischofskonferenz zu sehen, eine Kommission zur Untersuchung von Missbrauchsfällen einzurichten, sowie die Weigerung, unabhängige Strukturen zu schaffen, die diese Aufgabe übernehmen könnten. Als Reaktion auf einen Bericht der Zeitung "El Pais", in dem von mindestens 1000 angeblichen Missbrauchsfällen die Rede war, äußerte der Vorsitzende des Gremiums, Kardinal Juan José Omella, vorhersehbar "tiefen Schmerz" für die Opfer und erklärte, dass jede Diözese selbst dafür zuständig sei, "die Beschwerden zu sammeln und die Menschen zu begleiten, die gelitten haben".
Kirchliche Selbstkontrolle ist nicht mehr hinnehmbar
Unbewusst hat damit Kardinal Omella das Problem veranschaulicht, dem sich die öffentlichen und staatlichen Institutionen stellen müssen: Die Kirchenführer glauben, dass sie immer noch die moralische Autorität und die Glaubwürdigkeit hätten, sich selbst zu kontrollieren. In Spanien hat nun deswegen eine Gruppe von Parlamentariern, die von der regierenden Mitte-Links-Partei PSOE unterstützt wird, in einem ungewöhnlichen Schritt, der die politische Macht der katholischen Kirche in Frage stellt, einen Antrag auf die Bildung einer parlamentarischen Kommission vorgelegt. Diese soll alle Sexualverbrechen untersuchen, die vermutlich von Kirchenleuten an Kindern begangen wurden.
Nicht zuletzt die Enthüllungen in München zeigen, dass es ein Fehler der staatlichen Institutionen (Regierungen, Gerichte und Polizei) ist, der Kirche zu erlauben, allein zu ermitteln, zu urteilen und sich letztendlich selbst zu bestrafen. Dieser Zustand untergräbt jede vernünftige Vorstellung von Gerechtigkeit in einem demokratischen Staat. Und was noch wichtiger ist: Das ist eine ungeheuerliche Vernachlässigung der Pflichten durch den beschützenden Staat.
Wir sollten außerdem nicht davon ausgehen, dass es hier ausschließlich um Verbrechen geht, die vor langer Zeit begangen wurden. Gerechtigkeit für ehemalige Opfer ist wichtig. Aber die viel dringendere Frage ist, wie die Situation in den Kirchen und kirchlichen Einrichtungen aktuell ist. Denn die Zeiten, in der man sich auf den guten Willen der Kirche verlassen konnte, die ihr anvertrauten Menschen zu schützen, oder in der man von ihr eine ehrliche Einschätzung der eigenen Fehler erwarten konnte, sind längst und unwiderruflich vorbei.
Dieser Text wurde am 31.01.2022 aktualisiert. In der früheren Version wurden die Opferzahlen aus dem aktuellen Münchner Gutachten in Beziehung gesetzt zur Zahl der Geschädigten aus einer deutschlandweiten Studie aus dem Jahr 2018 (MHG-Studie). Diese Vergleichbarkeit ist jedoch nicht gegeben.