Menschenhandel als Lebensunterhalt
1. August 2002Köln, 1.8.2002, DW-radio / Albanisch, Odhise Kote
In den offiziellen Berichten und in den Medien wird das Phänomen als Menschenhandel bezeichnet. In Südalbanien hingegen ist es eine - wenn auch gefährliche - Form des Lebensunterhalts. Mit dem Schmuggel von Menschen von Albanien nach Italien verdienen viele Menschen ihr Brot, es werden Krisen überwunden und die Verluste durch das Pyramidensparen ausgeglichen, jene betrügerischen Anlagemodelle, die vor fünf Jahren viele Menschen um ihr Vermögen brachten. Vor der Küste der Stadt Vlora wollen die Menschen nichts mehr von der Propaganda der Regierung hören. Wütend über die albanischen Politiker wollen sie der Politik entkommen und weiter ihrer Arbeit nachgehen.
Diese Arbeit ist nun konspirativer als früher. So bleiben die Motorboote an der Küste, ohne Sprit und ohne Steuermann. Kommt dann eine Anweisung, wird heimlich Sprit gebracht, und der Steuermann schafft die illegalen Einwanderer aus ihren Verstecken auf die Boote, und dann geht es schnell in Richtung Italien. Die Aufgaben sind verteilt, aber die schwierigste Arbeit hat der Bootsführer, erläutert Kalua, der vermutlich in Wirklichkeit anders heißt:
Kalua
: Man muss sich nicht nur den Gefahren des Meeres stellen, sondern auch damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Man spielt mit dem Leben. Wir wissen, wann wir losfahren, aber ob wir zurückkommen, ist nicht so sicher. Auch wenn ich die Menschen hinübergeschafft habe, kann mich der Sturm während der Rückfahrt überraschen, oder die Motoren gehen kaputt, die sowieso nicht von bester Qualität sind. Sie haben keine Garantie. Es ist für mich und meine Freunde ein großes Wagnis."Kalua kennt das Meer sehr gut und macht diese Arbeit seit Jahren. Er sagt, dass der gefährlichste Teil der Fahrt der mittlere Abschnitt der Straße von Otranto ist, weil da alle Strömungen der Adria mit denen des Ionischen Meeres zusammentreffen. Wenn dieses Gebiet überwunden ist, dann ist es schon fast geschafft. Als ich ihn nach den Opfern der jüngsten Schiffskatastrophe frage, sieht er mich lange an, und zögert lange, bevor er mir antwortet: Die Bootsbesitzer seien schuld daran gewesen, sagt er
Kalua
: "Es gibt momentan auf der Halbinsel Karaburun sieben Motorboote. Zehn Familien leben von einem Motorboot. Wir machen keinen großen Profit. Es ist aber Tatsache, dass die meisten der Bootbesitzer Amateure, unerfahrene Menschen sind, die sich mit dem Meer nicht auskennen. Es ist genauso, wie wenn man jemanden, der noch nie einen Bus gefahren hat, auf Überlandstrecken einsetzt und dann die Passagiere in den Tod schickt. Die Schuldigen sind also die Bootbesitzer, die Kinder mitnehmen. (...)"Als ich ihn mit dem Beschluss der Gemeinde Vlora gegen Aktivitäten dieser Art sowie mit dem Beschluss der EU über die Kontrolle der Außengrenze in der Adria mit modernen speziellen Mitteln konfrontiere, antwortet Kalua:
Kalua
: "Es kostet ein Vermögen, ein solches Boot zu bauen. Das Boot ist wie eine Fabrik, die Menschen beschäftigt. Es beschäftigt mich, den Helfer, den Begleiter, dann die Taxifahrer, die die Menschen hierher bringen, dann diejenigen, die den Kraftstoff kaufen und an bestimmte Orte bringen."Das ist die Realität an den Küsten Vloras. Nicht weit von dort ist die Straße von Otranto vielen Menschen zum Grab geworden.
Nun eine kurze Chronik der letzten Jahre: 28. März 1997: 84 Opfer; 17. November 1997 fünf Tote und 11 Vermisste, insgesamt 16 Opfer; 23. November 1997: Sieben Tote, 2 von ihnen Kinder; 4. April 1998: 12 illegale Emigranten aus Mittel-Albanien, alle vermisst; 9. Oktober 1998: neun Kinder werden ins Meer geworfen und keines von ihnen überlebt; am 24. November 1998 treffen zwei Motorboote zusammen, es gibt Feuergefechte und 19 Emigranten sterben. 26. November 1998: Sieben Menschen verlieren ihr Leben, die Leichen werden nicht gefunden, 17. Mai 1999: Sechs Emigranten verlieren ihr Leben; 30.Dezember 1999: 59 illegale Emigranten verlieren vermutlich ihr Leben - keine Leiche wird gefunden; 11. Februar 2000: 15 Emigranten sterben; 6. Juni 2001: sechs Menschen kommen ums Leben, fünf werden gerettet.
Zum ersten Mal wird ein Menschenschlepper bestraft, der diesen Transport organisiert hat. Am 10. März 2002 versinkt ein Motorboot mit 27 Menschen im Meer, es gibt sechs Opfer. Die jüngste Tragödie passierte am 22. Juli 2002: Ein italienisches Motorboot und ein albanisches Motorboot stoßen zusammen. Zwei Menschen werden getötet und 27 verletzt, drei werden noch vermisst. Zum ersten Mal erhebt die albanische Staatsanwaltschaft Anklage gegen italienische Soldaten und gibt ihnen die Schuld an dieser Tragödie.
Trotz aller Tragödien treiben die desolate Wirtschaftslage und der Traum von einem besseren Leben immer noch viele Albaner zur Straße von Otranto. Dazu Kalua: "Sowohl die illegalen Einwanderer als auch wir wissen ganz genau, wie schlimm die Zustände aufgrund der wirtschaftlichen Krise im Land sind. Die Regierung sollte uns nicht für dumm verkaufen." (MK)