Merkel bei Festakt in Ungarn zur Massenflucht
19. August 2019Am 19. August 1989 gelang mehr als 600 DDR-Bürgern am österreichisch-ungarischen Grenzübergang bei Sopron die Flucht in den Westen durch ein kurzzeitig geöffnetes Tor, ohne dass die ungarischen Grenzsoldaten einschritten. Das Geschehen markierte den ersten ganz deutlichen Riss im sogenannten Eisernen Vorhang, der die Abschottung der kommunistischen Länder im Osten gegenüber den demokratischen Ländern im Westen darstellte. Nur wenige Wochen später kam es zum Fall der Berliner Mauer.
Bei einem Gedenkgottesdienst in Sopron sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Sopron ist ein Beispiel dafür, wie viel wir Europäer erreichen können, wenn wir für unsere unteilbaren Werte mutig einstehen." Merkel hatte bereits am Samstag den Beitrag Ungarns zur Deutschen Einheit gewürdigt. Das Land habe 1989 den Mut aufgebracht, die Grenzen zu öffnen. Damit habe es den Menschen aus der DDR, die ausreisen wollten, die Flucht in den Westen ermöglicht. Dies sei "ein ganz wichtiger Baustein" hin zur Maueröffnung und zur deutschen Einheit gewesen.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sagte bei dem Festakt, die Ungarn hätten immer gewusst, dass die eigene Befreiung von den Sowjets nur durch die deutsche Wiedervereinigung gelingen könne. Daher sei der deutsche Wiedervereinigungsgedanke seinerzeit in Ungarn mehr unterstützt worden als in Deutschland. Orban lobte die Bundeskanzlerin für ihre Arbeit für den europäischen Zusammenhalt.
Viele Differenzen
Die Beziehung zwischen Deutschland und Ungarn ist deutlich abgekühlt. Auslöser für die Entfremdung war die unterschiedliche Haltung in der Migrationspolitik. Orban hatte die deutsche Willkommenspolitik aus dem Jahr 2015 mehrfach scharf kritisiert und auch Merkel persönlich angegriffen. Die Meinungsverschiedenheiten über die Migrationspolitik bestünden weiter fort, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert bereits am Freitag erklärt.
Deutschland stört sich vor allem an dem von Orban betriebenen Demokratieabbau sowie an der europa-skeptischen und pro-russischen Haltung Orbans. Der Ungar sieht sich als Vorkämpfer einer illiberalen Demokratie. Die Bundeskanzlerin ist seit 2014 nicht mehr in Ungarn gewesen, in dem der rechtskonservative Orban seit 2010 regiert.
Orban vertrat bei der Gedenkveranstaltung die Auffassung, Europas Einheit solle nie als "vollendet" betrachtet werden. Vielmehr müsse sie "von Konflikt zu Konflikt" stets neu erschaffen werden. Merkel mahnte bei ihrer Ansprache hingegen die Kompromissfähigkeit der EU-Staaten gerade in strittigen Fragen an. "Wir sollten uns stets bewusst sein, dass nationales Wohl immer auch vom europäischen Gemeinwohl abhängt."
Budapest bemühte sich im Vorfeld des Treffens um versöhnliche Töne. "Wer, wenn nicht die Ungarn und die Deutschen mit ihrer langen gemeinsamen Geschichte, sind in der Lage, die europäischen Trennlinien zwischen West und Ost zu überwinden", sagte der ungarische Botschafter in Berlin, Peter Györkös, der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten".
Beide Länder würden sich nunmehr auf gemeinsame Initiativen in weniger kontroversen Bereichen wie etwa beim Schutz der EU-Außengrenze und in der Entwicklungspolitik konzentrieren. Der ungarische Diplomat äußerte sich vorsichtig optimistisch, dass es Fortschritte geben könnte.
Vorwurf der Untätigkeit
Die oppositionelle ungarische Tageszeitung "Nepszava" warf indes der Regierung in Berlin vor, nichts gegen die Einschränkung der Demokratie durch Orban zu tun. "Außer dem diplomatischen Zürnen passiert nichts", hieß es in einem Kommentar am Samstag. Die deutsche Regierung setze sich nicht dafür ein, dass die EU gegenüber Budapest härter auftritt.
ust/kle (dpa, afp, bpb.de, Twitter)