"Biohackers" spielen auf Netflix Gott
21. August 2020Nahezu lautlos rauscht der Schnellzug durch eine sommerliche Berglandschaft, im Großabteil ist es angenehm ruhig. Doch plötzlich ringt eine Frau nach Luft, reißt die Augen erschrocken auf und sinkt bewusstlos zusammen. Während die Fahrgäste sie reanimieren, fallen immer mehr Menschen mit Atemnot zu Boden. In dem Waggon hat sich unbemerkt eine tödliche, ansteckende Krankheit ausgebreitet.
Ohne zu viel zu verraten: In der neu gestarteten Serie "Biohackers" geht es nicht um eine Pandemie. Doch Szenen wie diese haben Netflix und das Produktionsteam auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie veranlasst, den Sechsteiler nicht wie ursprünglich geplant Ende April sondern erst am 20. August 2020 zu starten.
"Wir wollten keine Ängste schüren oder gar Verschwörungstheorien anfeuern", sagt Christian Ditter, der Regisseur der Serie. "Daher bringen wir sie jetzt zu einem späteren Zeitpunkt raus, wenn die Leute etwas aufgeklärter sind und deutlich besser zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden können."
Serienthriller über Biotechnologien
Dennoch gibt die Netflix-Serie wichtige Denkanstöße, die derzeit - im gesellschaftlichen Ringen gegen das Coronavirus - wichtiger nicht sein könnten: "Was passiert, wenn normale Menschen wie Du und ich mit Dingen konfrontiert werden, die größer sind als sie selbst?" beschreibt Christian Ditter, der auch das Drehbuch geschrieben hat, den Serienstoff.
Wieweit Wissenschaftler gehen dürfen, und wo die Grenzen verlaufen, das lotet der Sechsteiler temporeich aus. "Biohackers" erzählt die Geschichte der Medizinstudentin Mia, gespielt von Luna Wedler, und der eiskalten Professorin Tanja Lorenz, gespielt von Jessica Schwarz.
"Wir machen Gott obsolet", verkündet die umschwärmte Star-Dozentin nahezu größenwahnsinnig ihren Studierenden. Dank synthetischer Biologie sagt sie genetischen Erbkrankheiten den Kampf an und möchte diese am liebsten noch im Mutterleib auslöschen.
Versuche dazu macht Lorenz nicht nur an der Universität, sondern auch im abgeriegelten Privatlabor. Dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht, scheint Studentin Mia zu wissen - die beiden verbindet ein Geheimnis, das Episode für Episode spannungsreich gelüftet wird.
Genetische Optimierung?
Die Idee zu dem Serienstoff sei Christian Ditter gekommen, nachdem er befreundete Wissenschaftler gefragt hatte, "was sie nachts nicht schlafen lässt." Er vermutete Themen wie Künstliche Intelligenz oder Klimawandel. Doch sie antworten: Synthetische Biologie. Und Ditter begann zu recherchieren.
Tatsächlich wird der Mensch zum Schöpfer: Zellen werden mit neuen Eigenschaften und Funktionen konstruiert - mithilfe der synthetischen Biologie, die Fachbereiche wie Molekularbiologie, organische Chemie, Ingenieurswissenschaft und Ingenieurstechnik kombiniert. "Quasi wie mit Legobausteinen", sagt Ditter, der zuvor in den USA unter anderem die Netflix-Serie "Girlboss" gedreht hatte.
Das kann künftig hilfreich sein für die Entwicklung neuer Medikamente, für Biotreibstoffe und maßgeschneiderte Werkstoffe - synthetische Biologie kann völlig neuartige Produkte hervorbringen. Oder bereits bestehende Verfahren, wie das zur Vervielfachung von Impfstoffen, stark vereinfachen und beschleunigen.
Allerdings kann man hier auch mächtig rumpfuschen, insbesondere wenn es um das menschliche Erbgut geht. Denn Gentechnik heißt immer auch Experimentieren: Welche unerwünschten Folgen könnte es haben, wenn ein Gen verändert wird? Das menschliche Genom ist zwar entschlüsselt, damit jedoch lange nicht verstanden.
Leuchtende Mäuse und magnetische Finger
Dass sich um dieses Feld nicht nur die Wissenschaftler bemühen, ist bereits im Serientitel klar: "Biohackers". Denn dank einer 2012 entdeckten Gen-Schere können auch Privatpersonen, Gene entfernen oder hinzufügen – und in der Serie tummeln sich erstaunlich viele von ihnen.
So versucht sich Jasper, die Hilfskraft von Stardozentin Lorenz, in einem Bauwagen selbst von einer unheilbaren Erbkrankheit zu heilen. Mias Mitbewohnerin bringt Pflanzen zum Leuchten und addiert Fleischgeschmack ins Gemüse. Der Mitbewohner wiederum ist kein Bio- sondern Bodyhacker und implantiert sich diverses vermeintliches Selbstoptimierung-Werkzeug, wie beispielsweise Magnete in Finger.
Das wirkt etwas bemüht - und bringt doch zum Nachdenken: Passiert all das tatsächlich gerade jetzt in der Realität? Möchten wir zulassen, dass unsere Körper so optimiert werden? Denn auch wenn die Charaktere teilweise dick aufgetragen sind, so bewegen sich die Schauspieler doch sicher und routiniert an Sequenzern und Pipetten.
Beraten wurden die Serienmacher und auch die Schauspieler von Medizinern und Wissenschaftlern, ein Bereich mit dem Regisseur Ditter auch privat zu tun hat: Seine Frau ist nämlich Ärztin. "Je angstvoller ich eine Situation wie beispielsweise einen Unfall empfunden habe, desto sicherer war sie. Auch andere Wissenschaftler, die ich kenne, reagierten immer nüchtern und sachlicher, je dramatischer etwas war. Das zu zeigen, war mir wichtig."
Wissenschaftler beim Dreh dabei
Wissenschaftlicher Fachberater war unter anderem Ole Pless, Molekularbiologe am renommierten Fraunhofer-Institut. In einem Interview im Netflix-Presseportal zeigt er sich zufrieden mit der fiktionalen Serie. "Ich habe mich an vielen Stellen erkannt, einiges stammt komplett aus meiner Feder. Das ist auch wissenschaftlich korrekt", so Pless.
Auch wenn "Biohackers" von kriminellen und illegalen Menschenversuchen handelt, so hat Regisseur Ditter weiterhin große Hochachtung vor der Forschung. Für ihn sind "Wissenschaftler die neuen Superhelden". Schließlich behandle seine Serie auch die guten Seiten der synthetischen Biologie, die am Ende der ersten Staffel auch Leben rettet.
Das ist alles nicht nur Fiktion für Ditter, der im Laufe seiner Recherche und der Dreharbeiten viele leidenschaftliche Wissenschaftler kennengelernt habe: "Als Covid-19 losging, da war mir sofort klar, dass sich die schlausten Menschen, die wir auf dem Planeten haben, darauf konzentrieren werden, das irgendwie zu lösen. Und das werden sie auch hinkriegen."