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"Not one more word": NS-Gedenkstätten verlassen Plattform X

Cristina Burack
13. Dezember 2024

"Kein einziges Wort mehr": Zahlreiche Holocaust-Forscher und Gedenkstätten wenden sich von Elon Musks Plattform ab. Sie beklagen Missbrauch und Fehlinformationen auf X.

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Auf einem Smartphone ist der Buchstabe X zu sehen
Elon Musk kaufte Twitter und benannte es im Oktober 2022 in X um Bild: Jaque Silva/NurPhoto/picture alliance

Mehrere Gedenkstätten, aber auch Einzelpersonen, die an den Holocaust erinnern, haben am Freitag ihre X-Konten stillgelegt. Damit haben sie sich dem anhaltenden Exodus von der Social-Media-Plattform angeschlossen, die dem Tech-Milliardär und Trump-Vertrauten Elon Musk gehört.

Die koordinierten Abgänge sind Teil der Initiative "Not one more word" (Deutsch: Kein einziges Wort mehr), die von der Association of Jewish Refugees (AJR) organisiert wird. Die in Großbritannien ansässige gemeinnützige Organisation kümmert sich um Holocaust-Flüchtlinge und -Überlebende und widmet sich der Erinnerungskultur. In einer Erklärung beklagte die AJR die Veränderungen, die seit der Übernahme der früher als Twitter bekannten Plattform durch Musk im Oktober 2022 stattgefunden hätten.

"Fehlinformationen, Verzerrungen und Missbrauch haben zugenommen, während Sicherheitsmaßnahmen und Maßnahmen, Inhalte zu moderieren, so gut wie abgeschafft sind", heißt es im Statement der AJR. "Gleichzeitig ist X als Unternehmen auf unsere Inhalte angewiesen, um seine Nutzer zu binden. Mehr Engagement bedeutet mehr Werbeeinnahmen. Einfach ausgedrückt: X profitiert von unserer Präsenz dort - es profitiert von jedem Wort, das wir veröffentlichen. Wir sagen: Not one more word."

Weniger Faktenchecks, mehr Desinformation

17 Organisationen mit Holocaust-Bezug und 22 Einzelpersonen, die sich mit der Erforschung des Holocausts befassen, haben X mittlerweile den Rücken gekehrt; so der Stand am 12. Dezember. Vor allem in Großbritannien und Deutschland schloss man sich der Initiative "Not One More Word" an. Die Teilnehmenden haben sich verpflichtet, sich gegenseitig auf anderen Social-Media-Plattformen zu unterstützen.

Sie sind nicht die ersten, die X gegen alternative Optionen eingetauscht haben. Auch Zeitungen, Fußballvereine, große gemeinnützige Organisationen und Einzelpersonen wandten sich schon von X ab - wobei viele ihre Konten nach der Wahl von Donald Trump am 6. November dieses Jahres deaktivierten.

Keine Entscheidung von heute auf morgen

Die Entscheidung der AJR, X zu verlassen, zog sich hin und war nicht das Ergebnis eines bestimmten Auslösers, erklärte Alex Maws, der Leiter der Abteilung Bildung und Kulturerbe der Organisation. Ein entscheidender Moment kam jedoch, als Musk die rassistische und antisemitische Theorie des "großen Austausches" unterstützte - sie besagt, dass Migranten die weiße Bevölkerung in westlichen Staaten nach und nach ersetzen. Eine Theorie, die unter Rechtsextremisten und weißen Rassisten weit verbreitet ist.

König Charles III. reicht einem älteren Mann mit Kippa die Hand
Die Association of Jewish Refugees organisiert Veranstaltungen wie diese im Jahr 2023, als Alf Buchler (rechts), ein Flüchtlingskind aus dem Zweiten Weltkrieg, mit König Charles III. zusammentrafBild: Adam Soller/AJR

"Das erregte die Aufmerksamkeit vieler Leute ... sie merkten, dass diese Theorie eigentlich nur ein Beispiel dafür war, wie die Plattform nicht nur Missbrauch und Fehlinformationen tolerierte, sondern ... anscheinend auch förderte und an Leute weitergab, die nicht nach so etwas suchten", so Maws gegenüber der DW. Er wies auch darauf hin, dass niemand genau wisse, wie der X-Algorithmus funktioniert.

Sowohl Maws als auch die AJR sind der Meinung, dass die Fehlinformation und der Missbrauch auf X stark verbreitet sind und den möglichen Nutzen, das Publikum auf der Plattform zu erreichen und aufzuklären, in den Schatten stellen. Maws beschloss, die Entscheidung, X zu verlassen, öffentlich zu machen. Er wandte sich an das professionelle Netzwerk der Holocaust-Gedenkstätten, um "andere zu ermutigen, etwas zu tun, was sich im heutigen Kommunikationsumfeld vielleicht etwas riskant anfühlt".

Polen Elon Muskauf der Konferenz der European Jewish Association in Krakau
Elon Musk, hier bei seiner Rede auf der Konferenz der European Jewish Association in Polen im Januar 2024, betont, dass er nicht antisemitisch ist Bild: Jaap Arriens/NurPhoto/picture alliance

Wegen der kollektiven Entscheidung, X zu verlassen, wurde Maws und den anderen vorgeworfen, eine "politischen Kampagne" zu starten; auch von einem "linken Komplott" war die Rede. Maws betont aber, der Schritt habe nichts mit der Politik von Musk zu tun. "Es ist sehr wichtig klarzumachen, dass Antisemitismus keine feste politische Heimat kennt", sagte er der DW. "Es hat wirklich nichts mit Musks Schulterschluss mit dem gewählten Präsidenten Trump zu tun. Wahrscheinlich gibt es überall im Unternehmenssektor Führungskräfte, mit denen viele von uns nicht einverstanden sind, aber wir distanzieren uns nicht unbedingt von ihren Produkten oder ihren Plattformen, weil diese Ansichten nicht unbedingt Auswirkungen haben."

Deutsche Gedenkstätten folgen dem Aufruf

Der Initiative der AJR schloss sich auch das Haus der Wannsee-Konferenz (GHWK) in Berlin an. Die Villa, die heute eine Holocaust-Bildungs- und Gedenkstätte ist, war im Januar 1942 Schauplatz einer Konferenz, auf der politische und militärische Vertreter der Nazis die Umsetzung der "Endlösung" - die staatlich sanktionierte Deportation und Ermordung der Juden in ganz Europa - planten.

Menschen stehen in einem Ausstellungsraum der Villa Wannsee
Das Haus der Wannsee-Konferenz ist seit 1986 eine Bildungs- und Gedenkstätte Bild: Schoening/imageBROKER/picture alliance

Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Villa hatten seit rund einem Jahr erwogen, X zu verlassen; seit Oktober 2023 nutzen sie neben X bereits die beliebte Alternative Bluesky.

"Also, wir hätten tatsächlich auch gar keine Kampagnen, gar keinen Aufruf gebraucht," sagt Eike Stegen, Pressesprecher der GHWK. "Wir waren in unserer internen Diskussion ohnehin an einem Punkt, wo wir gesagt haben, wir wollen diese Plattform verlassen. Und jetzt war es uns aber darum gegangen, dass wir uns einer Kampagne, einem Aufruf anschließen, weil wir möglichst noch viele andere Accounts in unserem Umfeld dazu motivieren wollten, die Plattform mit uns zu verlassen."

Screenshot zeigt das Wort "Ausgeixt", am unteren Rand ein historisches Bild der Villa Wannsee
Die GHWK hat ihren Twitter-Account Anfang Dezember stillgelegt Bild: GHWK Berlin

Die AJR-Initiative ist bereits die zweite X-Austrittskampagne, der sich die GHWK anschließt; am 2. Dezember gab sie bekannt, sich einer in Deutschland organisierten Kampagne namens #eXit anzuschließen.

Stegen ist zuversichtlich, dass die Gedenkstätten auch auf alternativen Plattformen ein Publikum erreichen können. "Aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte und gar eine gewisse Resonanz wegbricht, dann ist es die Sache unseres Erachtens wert." Alerdings hätte er sich eine größere internationale Reichweite der Initiative gewünscht, sagt Stegen, weil "Social-Media-Plattformen darauf angewiesen sind, ein soziales Umfeld zu schaffen, in dem man gehört wird und mit anderen kommunizieren kann".

Verantwortung zeigen

Er werde niemanden dafür verurteilen, auf X zu bleiben, stellt Maws klar: "Menschen und Organisationen müssen diese Entscheidungen auf Grundlage ihrer eigenen strategischen Ziele treffen. Und wenn es diesen Zielen dient, auf X zu sein, ist das großartig."

Ältere Menschen sitzen und stehen im Halbkreis
Die AJR kümmert sich um Holocaust-Flüchtlinge und -Überlebende und sieht sich in der Verantwortung für die Weitergabe ihres Vermächtnisses Bild: Adam Soller/AJR

Für die AJR, die von Holocaust-Flüchtlingen und -Überlebenden gegründet wurde, sei die Frage jedoch eine Frage der Verantwortung: Würden die Gründer und ihre Nachkommen wollen, dass wir ihr Erbe und ihre Geschichten "auf einer Website teilen, die offenbar als Teil ihres Geschäftsmodells - als Merkmal, nicht als Fehler - Antisemitismus, Desinformation, Holocaust-Verzerrung und Hass im Allgemeinen fördert?", fragt Maws. "Ich denke, für eine Wohltätigkeitsorganisation wie die unsere ist es nicht angemessen, zu einem solchen Umfeld beizutragen."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords