Politiker wider Willen - Der Dalai Lama
4. Februar 2009Wenn er den Raum betritt, geht ein leises Raunen durch die Anwesenden. Von den bewundernden und ehrfürchtigen Blicken gänzlich unbeeindruckt pflegt Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, dann seine Hände zum Gruß zusammenzulegen. Aus wachen Augen schaut er durch seine altmodische, eckige Brille in das Publikum und grinst sein warmes Dalai-Lama-Grinsen. Seine heitere und bodenständige Art bezaubert viele, die ihn persönlich erlebt haben.
Der Sohn eines Bauern
Am 6. Juli 1935 wurde der Dalai Lama als Lhamo Dondrub, Sohn einer Bauernfamilie, am nordöstlichen Rand des tibetischen Plateaus geboren und mit drei Jahren als Reinkarnation seines verstorbenen Vorgängers erkannt. Mit seiner Familie übersiedelte er in Tibets Hauptstadt Lhasa, wo er bis zu seiner Flucht vor den chinesischen Besatzern 1959 lebte. Rund 100.000 seiner Landsleute folgten ihm ins Exil in den indischen Bergort Dharamsala.
Jedem der Dalai Lama, den er sich wünscht.
Die westliche Welt begeistert sich vor allem für seinen Gleichmut und die scheinbar simple Philosophie, die er für alle Lebenslagen parat hat. Doch den Anhängern seiner Religion ist er bei spirituellen Unterweisungen ebenso ein ernsthafter und weiser Lehrmeister. Er ist das wichtigste Oberhaupt im tibetischen Buddhismus. Kaum einer seiner Vorgänger hat so viel für dessen Verbreitung geleistet wie er und keiner war für die Gläubigen je so präsent.
In früheren Zeiten wurden die Dalai Lamas vom Volk weitestgehend abgeschirmt. Tenzin Gyatso suchte schon in jungen Jahren die Nähe zum Volk. In seiner Autobiographie beschreibt er, wie er die Menschen vom Potala-Palast aus mit dem Fernrohr beobachtete oder heimlich seine Betreuer belauschte um zu erfahren, was außerhalb der Klostermauern vor sich ging.
Als traditioneller Herrscher Tibets ist der Dalai Lama heute außerdem Vater eines Volkes, das sein Land verloren hat. Auf ihn, den sie als Chenresig, den Buddha des Mitgefühls, verehren, legen die Tibeter alle Hoffnung, ihre Freiheit wieder zu erlangen.
Politiker wider Willen
Als Politiker ist der Dalai Lama beinahe eine tragische Figur. Als die Chinesen 1950 in Tibet einmarschierten, war er erst fünfzehn; viel zu jung und unerfahren, um etwas dagegen unternehmen zu können.
Er leitet sein politisches Handeln aus der buddhistischen Ethik ab. Seinem Volk predigt er Gewaltlosigkeit und Mitgefühl – auch den chinesischen Besatzern gegenüber. Das hat ihm zwar die Sympathien der Welt und 1989 sogar den Friedensnobelpreis eingebracht, nicht aber Freiheit für sein Land.
Am liebsten würde er sich aus der Politik zurückziehen und sich nur noch dem Buddhismus widmen, sagt er immer wieder. Aber sein Volk lässt ihn nicht. Erst kürzlich haben die Tibeter während einer Generalversammlung zur Zukunft Tibets wieder betont, dass sie von ihm geführt werden wollen.
Der Ungehorsam wird größer
Dabei wird unter ihnen die Kritik an seiner Politik des mittleren Weges – auch eine aus dem Buddhismus abgeleitete Strategie – immer lauter. Der Dalai Lama hat vor rund 20 Jahren seine Forderung nach der Unabhängigkeit Tibets aufgegeben und verlangt nur noch eine weitgehende Autonomie.
Vielen Exiltibetern ist das nicht genug. Auch hatten viele kein Verständnis dafür, als er im Vorfeld der Olympiade in Peking seine Leute aufrief nicht gegen China zu protestieren. China hatte im März 2008 Aufstände in Tibet gewaltsam unterdrückt. Die Exiltibeter widersetzten sich seinem Wunsch und protestierten weiter, monatelang. Der Dalai Lama stand hilflos vor der Wut seines Volkes.
So sehr die Tibeter und die westliche Welt ihn verehren, so sehr hasst ihn die chinesische Führung. 2008 warf sie ihm vor, die Tibeter zu den März-Unruhen angestiftet zu haben und nannte ihn eine Bestie in Menschengestalt.
Was kommt nach ihm?
In diesem Jahr feiert der Dalai Lama seinen 74. Geburtstag. Die Tibeter fürchten sich vor dem Tag seines Todes; denn der Dalai Lama ist der einzige, der sie zusammenhalten und die radikaleren Kräfte davon abhalten kann, sich gewaltsam gegen die chinesische Besatzung zu wehren. Nach den Aufständen in Tibet im März 2008 sagten manche dort voraus, die nächsten Unruhen werde es geben, wenn der Dalai Lama einmal stirbt.
Mit seinem Tod würde Tibet international sicherlich an Aufmerksamkeit verlieren. Tenzin Gyatso selbst sagt häufig, dass er vielleicht der letzte Dalai Lama sein wird. Aber ob und wie die Nachfolge geregelt werden soll, will er letztlich seinem Volk überlassen.