Populismus puscht Folter in Lateinamerika
30. Juni 2020Der junge Mann sei schweren Peinigungen unterzogen worden, die einer Folter gleichkommen. Am schwersten wögen die sexualisierten Peinigungen: Man habe ihn gezwungen sich völlig nackt auszuziehen. Mit Handschellen gefesselt sei er dann geschlagen und von Polizisten mit einem Schlagstock sexuell missbraucht worden. So schildert der Rechtsanwalt Pablo Riviera einen Fall aus Chile, der nicht etwa aus der frühen Pinochet-Diktatur Mitte der 1970er Jahre stammt, sondern aus dem Jahr 2019.
Es ist eine von 951 Anzeigen, die das Nationale Institut für Menschenrechte im Umfeld der Proteste im Oktober 2019 registriert haben. "Der exzessive Gebrauch von Gewalt, etwa bei der Unterdrückung von Protesten, geht so weit, dass er teilweise mit dem vergleichbar ist, was wir als brutale, inhumane oder erniedrigende Strafe oder sogar Folter bezeichnen", sagt der argentinische Jurist Juan Méndez vom Washington College of Law der American University, der zwischen von 2010 bis 2016 Sonderberichterstatter der UNO für Folter war.
Eine Spirale der Gewalt
Archaische Praktiken wie diese bestehen in vielen Ländern Lateinamerikas fort. Belastbare Zahlen, um die Zustände in den einzelnen Ländern objektiv zu vergleichen, gibt es laut Amnesty International nicht. Und subjektiv ergebe sich ein verzerrtes Bild, sagt Menschenrechtsanwalt Méndez: "Die Fälle, bei denen politisch Verfolgte gefoltert werden wie in Venezuela und Nicaragua, sind deutlich prominenter als andere." Der Hauptgrund dafür sei, dass die Mittelschicht sich stark mit ihnen identifiziere.
In Demokratien, sagt Méndez, könne man davon ausgehen, dass politische Folter der Vergangenheit angehöre, nicht aber das Foltern von Straftätern. Und sie sei meist schwerer, wenn die Opfer Indigene, Schwarze oder Menschen aus sozial und ökonomisch schwächeren Schichten sind. Besonders verbreitet sei die Folter mutmaßlicher Straftäter in Mexiko, sagt Méndez, vor allem im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen.
Die Situation in Mexiko, erklärt Stefan Rinke, Lateinamerika-Historiker an der Freien Universität Berlin, sei einerseits ein Resultat der ökonomischen Interessen aus dem lukrativen Drogengeschäft: "Das organisierte Verbrechen praktiziert die Folter seinerseits mit großer Brutalität." Daraus ergäben sich wechselseitige Rachebedürfnisse, die eine regelrechte Gewaltspirale antrieben.
Ein Erbe, älter als die Diktaturen
Dass das Problem in Lateinamikerika so prominent ist, sieht Rinke in der Geschichte der Region: "Lateinamerika brauchte keine Diktaturen, um die Folter zu entdecken." Aber die Militär-Regime hätten mit ihrem Staatsterrorismus eine neue Dimension eröffnet. Und das setze sich - wenngleich mit verminderter Härte - bis heute vielerorts fort, weil die Polizei- und Militäreinheiten nach der Redemokratisierung nicht oder nur mangelhaft reformiert wurden. Auch weil Verstöße gegen Folterverbote nur selten geahndet werden.
Auch wenn die Folter nicht mehr so intensiv sei wie einst, werde der Schaden dadurch nicht geringer, sagt Rinke, zumal die Verstöße dann schwerer nachzuweisen seien.
Der Populismus senkt die Hemmschwelle
Grundlegende Polizei-Reformen oder ein deutliches Umdenken erwarten beide Experten derzeit nicht. Dem stehe die Haltung vieler Politiker entgegen, die gewählt wurden, weil sie eine Politik der "harten Hand" versprechen. Als extremes Beispiel nennt Historiker Rinke Brasilien, wo Politiker die Folter offen verteidigen würden. Dort seien sogar Rückschritte wie in Venezuela, Nicaragua und Mexiko zu erwarten.
Auch Méndez meint, die Ablehnung der Folter sei schon einmal selbstverständlicher gewesen: "Obwohl Politiker wissen müssten, dass sie nicht hilfreich ist, um das Verbrechen zu bekämpfen." Dennoch bleibt der Menschenrechtler vorsichtig optimistisch: "Ich glaube, ein Kontinent ohne Folter ist möglich - vielleicht nicht mehr in meiner Lebensspanne, aber sicher in der meiner Kinder und Enkel."