"Religiöse Minderheiten in Europa unter Druck"
29. Oktober 2020DW: Herr Gronich, die Bundesregierung warnt in einem umfangreichen Bericht vor einer schwindenden Akzeptanz der Religionsfreiheit in vielen Ländern weltweit, vor allem in Asien, Afrika, Lateinamerika. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Gady Gronich: Der aktuelle Bericht der Bundesregierung über den Stand der Religionsfreiheit ist besorgniserregend und zeigt einen länger anhaltenden Trend auf. Er sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die hier in Europa lebenden religiösen Minderheiten in der Freiheit ihrer Religionsausübung unter Druck geraten.
Das geht über den Terror und die alltäglichen Beschimpfungen hinaus?
Antisemitische Gewalttaten wie Angriffe auf Synagogen haben dieses und das letzte Jahr überschattet: Halle, Graz, Hamburg, dazu der digitale Hass im Netz. Als wäre das nicht schon schlimm genug. Belgien hat letztes Jahr das religiöse Schlachten verboten, Dänemark und Polen erwägen gerade ein solches Verbot einzuführen. Auch hier haben wir es mit einer Einschränkung der Religionsfreiheit zu tun, obwohl diese als europäischer Wert im Artikel 10 der Grundrechtecharta der Europäischen Union garantiert werden soll.
Was erwarten Sie von Europa?
Von Europas Politik sowie von der deutschen Ratspräsidentschaft wünschen wir uns ein stärkeres Bekenntnis zum Grundrecht der Religionsfreiheit und dass sie diesem Thema mehr Gewicht zu geben – denn es geht hier auch um die Integrität der europäischen Gesellschaft und ob sie religiöse Minderheiten weiter willkommen heißt.
Gady Gronich, 60 Jahre alt, ist seit 2017 Generalsekretär der Europäischen Rabbiner-Konferenz (CER). Der gebürtige Tel Aviver kam 1992 nach Deutschland und arbeitete bis 2017 für Hadassah International Deutschland. Er ist selbst kein Rabbiner.
Das Interview führte Christoph Strack.