Unberührt vom kulturellen Pluralismus
22. November 2010Sonntagmittag in Eyüp. Laut schallt der Ruf des Muezzins über den Platz vor der Moschee. Frauen in bunten Kopftüchern ziehen plärrende Kinder hinter sich her, Männer mit Gebetsketten schlendern zum Eingang der Moschee.
Vor einem Springbrunnen posieren Hochzeitspaare für Fotos, die Brautkleider glitzern in der Sonne wie Seide. Ein junger Bräutigam erklärt: "Wir sind hier, um zu Allah zu beten für eine gute Ehe!" Seine Mutter neben ihm seufzt: "So Gott will, werden sie für immer ein glückliches Paar sein!"
Moscheebesuch vor der Beschneidung
Wenige Meter entfernt präsentiert ein Ehepaar stolz seinen 5-jährigen Sohn. Der Junge sieht aus wie ein kleiner Sultan. Er trägt ein weiß glänzendes Kostüm mit Goldborte und eine turbanähnliche Mütze. In wenigen Tagen wird er "sünnet" feiern, die türkische Beschneidungszeremonie.
Vor dem pompösen Fest aber nehmen die Eltern ihn mit in die Eyüp-Sultan-Moschee. "Vor der Beschneidung wird gebetet, so ist es die Praxis unseres Propheten", erklärt der Vater des kleinen Prinzen.
Über Besuchermangel könne man wirklich nicht klagen, sagt Irfan Çalışan. Der Theologe leitet die kulturellen und sozialen Angelegenheiten im Stadtteil. Bis zu vier Millionen Besucher kämen im Jahr nach Eyüp, eineinhalb Millionen seien es allein im heiligen Fastenmonat Ramadan. "An besonders religiösen Tagen wie dem Opferfest haben wir auch schon auch mal 100.000 Besucher am Tag", erzählt der 41-Jährige stolz.
Die "kleine Wallfahrt" muslimischer Pilger
Nicht nur zu Feiertagen, zur Hochzeit oder Beschneidung pilgern Muslime nach Eyüp. Es ist seit über fünfhundert Jahren Tradition, einmal im Leben dem Fahnenträger des Propheten seine Ehre zu erweisen. Nur wenige Jahre nach der Eroberung Konstantinopels 1453 entstand Eyüp El Ensaris Grabstätte, die sich im Innenhof der Moschee befindet.
"Viele Mekka-Pilger machen hier auf ihrer Reise einen ersten Zwischenhalt. Diese Tradition aus osmanischer Zeit nennen wir auch 'Kleine Hadsch'", so Irfan Çalışan. Später könnten die Pilger dann dem Propheten in Mekka berichten, dass sie zuerst seinen Vertrauten und Gefährten in Istanbul besucht haben.
Ort voller Wünsche und Hoffnungen
Nach türkischem Brauch kommen aber auch unverheiratete oder kinderlose Frauen hierher, um für ihre Verheiratung oder um Nachwuchs zu bitten, oder auch Kranke, die auf Heilung hoffen, oder Schüler vor Prüfungen, die für gute Noten beten.
Für all diese Bittsteller gibt es am Eingang des Mausoleums Eyüp El Ensaris ein so genanntes Wunschfenster. Gläubige stehen davor und murmeln Koranverse, in der Hoffnung, dass ihre Bitten erfüllt werden.
Ein früher Islamgelehrter
Innen ist die Grabstätte mit wertvollen Teppichen und Kacheln verziert. Der Sarkophag Eyüp El Ensaris ist in einem separaten Raum, hinter einer silbernen Gittertür, aufgebahrt. Nur der Hafiz, ein Koran-Rezitator, darf ihn betreten. Der Mufti von Eyüp, Isa Gürler, führt uns ausnahmsweise hinein.
"Als der Prophet Mekka verließ und nach Medina zog, verbrachte er sieben Monate in Eyüp El Ensaris Haus", berichtet er. "Nach dem Tod des Propheten wurde Ensari zu einem führenden Islamgelehrten - er übermittelte den Muslimen die Taten und Aussprüche des Propheten, die so genannte Hadith."
Ewige Ruhe in Eyüp
Nach dem Besuch der Grabstätte wandern viele Pilger noch auf dem jahrhundertealten Friedhof hinter der Moschee und gedenken in aller Stille der Verstorbenen. Die wenigsten besitzen dort ein Grab, das ist nur besonderen Würdenträgern vorbehalten. Aber die spirituelle Atmosphäre des Ortes zieht alle Besucher in ihren Bann - unabhängig vom Grund ihres Besuchs. Irfan Çalışan lächelt weise: "So ist nun mal das Leben. Glück und Trauer liegen nah beieinander, auch in Eyüp."
Autorin: Claudia Hennen
Redaktion: Fabian Schmidt