SPD oder: Was ist eine Volkspartei?
17. Mai 2016Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler tritt zurück, weil der Kandidat seiner Partei bei der Präsidentschaftswahl weit abgeschlagen hinter dem Mann vom rechten Rand landet. Ein solches Szenario wäre in Deutschland schon deshalb undenkbar, weil das Staatsoberhaupt nicht direkt vom Volk gewählt wird. Deshalb könnte es auch nicht zu einer vergleichbaren Kettenreaktion kommen. Und dennoch lassen sich an manchen Punkten Parallelen entdecken, die mit der (partei)politischen Entwicklung insgesamt zu tun haben. Denn in beiden Ländern verlieren Sozialdemokraten und Konservative spürbar an Zustimmung.
Der Trend ist in manchen europäischen Ländern schon länger zu beobachten, während er in Deutschland noch vergleichsweise neu ist. In Österreich mischt die Freiheitliche Partei (FPÖ) seit der Jahrtausendwende kräftig mit. Ähnliches gilt für den Front National (FN) in Frankreich. Dessen ehemalige Gallionsfigur Jean-Marie Le Pen landete bereits bei der Präsidentschaftswahl 2002 vor dem Kandidaten der Sozialisten (PS), Lionel Jospin. Und die FPÖ hatte es zwei Jahre vorher sogar ins Kabinett geschafft - an der Seite des Kanzlers Wolfgang Schüssel von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Ein Tabubruch, den die Europäische Union (EU) mit mehrmonatigen Sanktionen auf diplomatischer Ebene bestrafte.
Der Eiertanz um die Kanzlerkandidatur ist symptomatisch
Die Konkurrenz vom rechten Rand blieb den Volksparteien trotzdem erhalten - vielleicht auch deswegen. Dass Ausgrenzung nämlich oft das Gegenteil bewirkt, zeichnet sich gerade auch in Deutschland ab. Die Alternative für Deutschland (AfD) räumt bei Landtagswahlen kräftig ab und sonnt sich mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 in zweistelligen Ergebnis-Prognosen. Der Abstand zur SPD wird mit jeder Umfrage geringer. Eine Volkspartei, die nur noch ein Fünftel der Wähler für sich begeistern kann, hat wahrlich ein Problem. Und sie wird es kaum lösen, wenn sie noch länger über den Zeitpunkt und das Procedere für die Kür des Kanzlerkandidaten streitet.
Wie es so weit kommen konnte, dafür gibt es viele Gründe und Erklärungsversuche. Wesentlich dürfte der von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 initiierte Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sein. Mag er angesichts der Globalisierung unausweichlich erschienen sein, aus Sicht vieler SPD-Stammwähler war es die Preisgabe des Gerechtigkeitsversprechens. Und je mehr sich die CDU unter ihrer Vorsitzenden und seit elf Jahren regierenden Kanzlerin Angela Merkel gesellschaftspolitisch Richtung Mitte orientierte, desto schwerer wurde es für die SPD. Deren aufgegebene Positionen absorbierte die Linke.
Merkel toleriert CSU-Populismus aus taktischem Kalkül
Aber auch die CDU zahlt einen zuweilen hohen Preis für ihre Paradigmenwechsel auf unterschiedlichen politischen Feldern. Vom Verzicht auf konservative Werte in der Familienpolitik und vom Kurs in der Flüchtlingsfrage profitiert sicherlich auch die AfD. Und so unentschlossen die SPD nicht nur beim Thema Kanzler-Kandidatur wirkt, so zögerlich erscheint die CDU beim Umgang mit ihrer bayrischen Schwesterpartei CSU. Die bewegt sich rhetorisch häufiger auf AfD-Niveau, um ihren Status als Volkspartei zu verteidigen. Angela Merkel schaut darüber großzügig hinweg. Wohl kalkulierend, dass ihre CDU auf eine starke CSU angewiesen ist, um bei der Bundestagswahl 2017 erfolgreich das Kanzleramt verteidigen zu können.
Rein rechnerisch dürfte eine Fortsetzung der großen Koalition mit der SPD die einfachste Option sein. Beliebt war und ist ein solches Bündnis nie. Zur Schärfung des eigenen Profils ist es ungeeigneter denn je, weil die programmatische Annäherung inzwischen sehr weit vorangeschritten ist. So weit, dass die SPD dabei ihren Status als Volkspartei fast schon verloren hat. Ihren Hochburgen in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg stehen mit Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nur wenige bevölkerungsreiche Flächenländer gegenüber.
Rot-Rot-Grün hätte keine rechnerische Mehrheit
Alle diese Bastionen sind wackeliger geworden und können schnell verloren gehen. Kontrahenten vom Schlage der AfD werden mitunter nur noch in ungewohnten Dreier-Bündnissen auf Distanz gehalten. Nach den Landtagswahlen im März fanden sich in Rheinland-Pfalz SPD, FDP und Grüne zusammen. In Sachsen-Anhalt regieren nun CDU, SPD und Grüne gemeinsam. Nur so war die aufstrebende AfD in Schach zu halten. Dort, wo die in Deutschland lange klassische Zweier-Variante noch möglich ist, entstehen ebenfalls völlig neue Koalitionen.
In Baden-Württemberg dürfen sich die Grünen - ohne jede Ironie - als neue Volkspartei fühlen. Als Juniorpartnerin fungiert eine CDU, die bis 2011 jahrzehntelang auf das Amt des Ministerpräsidenten abonniert war. Bei so viel neuer Beweglichkeit auf Länderebene wäre es keine Überraschung mehr, wenn CDU/CSU und Grüne die nächste Bunderegierung stellen würden. Als Sensation hätte es hingegen gegolten, wenn es 2013 zu einer Koalition aus SPD, Grünen und Linken gekommen wäre. Rechnerisch war sie möglich. Inzwischen fehlt selbst dafür eine Mehrheit - weil die (ehemalige) Volkspartei SPD in der Wählergunst noch weiter zurückgefallen ist.