Toleranz – auch eine christliche Tugend?
12. November 2020Am 16. November 1995 haben 185 Mitgliedstaaten der UNESCO feierlich die Erklärung der Prinzipien der Toleranz unterschrieben – mit dem Ziel, ein tätiges Engagement für Toleranz zu bekräftigen und auf die Gefahren der Intoleranz hinzuweisen. 25 Jahre sind seitdem vergangen, unsere Gesellschaft ist pluralistischer und multikultureller geworden, unsere Welt ist näher zusammengerückt - doch die Forderung nach mehr Toleranz ist dringlicher als je zuvor. Vor allem die religiöse Toleranz wird heutzutage auf eine harte Probe gestellt. Seien es öffentliche Auseinandersetzungen um die Beschneidung von Jungen, das Anbringen von Kruzifixen in Gerichtssälen oder die heftigen Reaktionen auf Mohammed-Karikaturen, die erst in jüngster Zeit ihren brutalen Höhepunkt in der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty fanden, sowie die jüngsten Anschläge in Frankreich und Wien mit islamistischem Hintergrund.
Diese Beispiele zeigen, dass der säkulare Staat, der seinen Bürger*innen die Religionsfreiheit garantieren möchte, sich plötzlich in neuer Härte mit religiösen Eiferern konfrontiert sieht, sodass eine Reflexion auf das, was gegenseitigen Respekt ausmacht, nottut. Hierbei kommt den Religionen eine besondere Verantwortung in der Gestaltung der Toleranzpraxis zu. Gleichzeitig haben gerade das Christentum und der Islam bedingt durch ihren absoluten Wahrheitsanspruch und mit ihrem ethischen Anspruch, alle Bereiche des Lebens regeln zu wollen, ihre spezifischen Probleme mit dem Toleranzgedanken. Vor allem der Islam hat es heutzutage besonders schwer, aufgrund von fundamentalistischen Anschlägen des politischen Islams, zu überzeugen, dass auch ihm im Grunde ein Toleranzethos gegenüber Fremden und Andersgläubigen innewohnt.
Die christlichen Kirchen stehen weniger in der Kritik, doch musste auch ihnen im Zuge der Aufklärung und den Entwicklungen der Neuzeit Toleranz gegenüber Anders- und Nichtgläubigen mühsam abgerungen werden. Einen Meilenstein bildete katholischerseits das Zweite Vatikanische Konzil, wo festgehalten wurde, dass sich auch in anderen Religionen „ein[…] Strahl jener Wahrheit erkennen lasse[…], die alle Menschen erleuchtet“ (Nostra aetate, Artikel 2), jedoch ohne die eigene absolut verstandene Wahrheit in Jesus Christus aufzugeben.
Wenn religiöse Toleranz gefordert wird, wird vielfach vergessen, dass diese für einen gläubigen Menschen eine außerordentliche Leistung darstellt. Sie fordert, den Anderen mit seinen abweichenden Glaubensüberzeugungen nicht nur zu dulden, sondern die Unterschiede positiv anzuerkennen und seine abweichende religiöse Auffassung als ebenso legitim anzusehen. Der unbedingte Respekt vor der Gewissensfreiheit des Anderen, die je eigenen religiöse Heils- und Glaubenswahrheiten nicht anzuerkennen, verlangt vom Christentum eine Kraft ab, die auf den ersten Blick widersprüchlich ist. Sie müssten sich selbst als absolut, aber doch zugleich als partikular und relativ verstehen lernen. Das Christentum kann nicht ohne die Gefahr der Selbstpreisgabe auf den Anspruch verzichten, die wahre und höchste Religion zu sein.
Scheitern an diesem Punkt die Überlegungen zu einer Tugend der christlichen Toleranz? Ist diese schlicht mit dem Selbstverständnis des Christentums unvereinbar?
Nein, denn einerseits kann das Christentum allein schon historisch betrachtet, nicht behaupten, die Wahrheit immer optimal repräsentiert und verkündet zu haben. Auf der anderen Seite gibt es auch für das Christentum einen Weg, quasi aus dem Inneresten heraus, die Idee der Toleranz, deren Ausdruck die Religions- und Gewissensfreiheit ist, zu bejahen.
Die christliche Religion versteht sich als Antwort auf die endgültige Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazareth. Doch letztlich bekennt auch sie, dass der allerhöchste Gott trotz seiner Offenbarung ein Geheimnis bleibt. Diesem Geheimnis kann ein wahrhaft gläubiger Mensch nur ehrfürchtig begegnen – im frommen Bewusstsein, Gott die Ehre zu geben, die ihm gebührt und sich zugleich niemals selbst an seine Stelle setzen zu wollen. Als Geschöpf Gottes bin ich abhängig von Gott, doch zugleich erhalte ich dadurch meine unzerstörbare Würde, denn Gott hat mich selbst, aber auch andere frei geschaffen. Daraus ergibt sich der Anspruch, den anderen so wahrzunehmen und anzuerkennen, wie er vor Gott ist und wie Gott ihn sieht. Wahre Frömmigkeit zeigt sich darin, zu erkennen, dass wir aufeinander angewiesen sind, nicht in bloßer Duldung, sondern in Hochschätzung und Respekt gegenüber dem Anderen - ohne über ihn bestimmen zu wollen und sei es auch zu dessen Wohl und Heil.
Anja Wonner, 27, volontiert nach ihrem Studium der Katholischen Theologie und Deutsch seit Anfang 2019 bei der Katholischen Fernseharbeit in Frankfurt.