Tourismus: Wenn die lokale Bevölkerung leidet
10. Juli 2024In mehreren europäischen Orten, die bei bei Touristen besonders beliebt sind, protestieren die Einwohner.
In Venedig haben einige in den letzten Jahren sogar Wohnungen besetzt. Sie sehen ihre Stadt als vom Tourismus geplagt und haben selbst keine Bleibe.
Im historische Zentrum leben noch knapp 49.000 Menschen dauerhaft. Besucher hat Venedig laut verschiedenen Schätzungen jedes Jahr mehr als 20 Millionen. Der Alltag der einen ist für die anderen Kulisse für ihre Ferienerlebnisse.
Europa ist der Kontinent mit den meisten internationalen Touristen, und Venedig ist nicht die einzige Stadt in Europa, die unter den Besuchermassen leidet.
Aktuell häufen sich Berichte über Proteste in Barcelona und anderen spanischen Städten. Auch in Lissabon, Prag oder Amsterdam führt der Massentourismus zunehmend zu Spannungen zwischen Reisenden und der lokalen Bevölkerung.
Die Gründe ähneln sich überall: steigende Mieten, astronomische Kaufpreise für Immobilien und die Frage, wer eigentlich wie viele Ressourcen verbrauchen darf.
Einnahmequelle Tourismus
Dabei ist der Tourismus für viele dieser Städte und Regionen die Einnahmequelle Nummer eins. In der Europäischen Union macht der Tourismus rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Etwa 12,3 Millionen Menschen sind nach EU-Schätzungen in dem Sektor beschäftigt.
"Das sind abstrakte Zahlen", sagt Sebastian Zenker von der Copenhagen Business School. Den Bewohnern vor Ort bringen die Einnahmen nichts, sagt Zenker, wenn gleichzeitig die Mieten steigen, Wohneigentum für Einwohner unerschwinglich wird oder Restaurants Preise aufrufen, die sich nur Touristen leisten können. Für die Bewohner müsse es ein gefühltes Gleichgewicht geben, so der Tourismusforscher.
Zwar würden auch viele Menschen am Tourismus verdienen, "aber gut verdienen oder davon leben können nur die wenigsten", so Zenker im Gespräch mit der DW. Ein Problem sei auch, dass die Löhne oft viel zu niedrig seien. In Italien gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn, in Portugal liegt er bei 4,85 Euro, in Spanien bei 6,87 Euro.
Eine Frage der Verteilung
Wo also fließt das Geld hin, das all die Reisenden in den Ländern des Mittelmeerraums ausgeben? Viel Geld erwirtschaften die Luftfahrtindustrie, große Hotelketten, internationale Firmen und die Kreuzfahrtindustrie, sagt Paul Peeters. Er forscht an der Breda Universität in den Niederlanden zu nachhaltigem Tourismus und Transport.
Für die Berechnung der Geldflüsse ist entscheidend, wer auf welche Art reist. Kreuzfahrttouristen schlafen und essen an Bord. Pauschalurlauber, die Flug, Hotel und Verpflegung über große Anbieter buchen, geben vor Ort ebenfalls wenig Geld aus.
Gleichzeitig tragen sie aber zu Luftverschmutzung und Wasserverbrauch bei - Lasten, die die Bewohner der Zielregionen tragen. Das verschärft die Ungleichheit und schürt die Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen weiter.
"Allen Akteuren ist bewusst, dass sie Touristen wollen. Die Frage ist, wie und welchen Tourismus", sagt Tourismusforscher Zenker aus Kopenhagen.
De-Marketing, Regeln, Verbote
Erste politische Ansätze gibt es. In Amsterdam etwa dürfen keine neuen Hotels mehr gebaut werden. Außerdem hat die Stadt mit gezieltem De-Markting versucht, den Party- und Drogentourismus unter Kontrolle zu bekommen.
Als De-Marketing werden Werbestrategien bezeichnet, die das Ziel haben, dass ein Produkt - hier die Stadt Amsterdam - bei bestimmten Zielgruppen weniger nachgefragt wird.
In Lissabon und Palma de Mallorca hat sich der Mietmarkt längst von den Bedürfnissen und wirtschaftlichen Realitäten der Bewohner verabschiedet. Erste Maßnahmen: keine Vergabe neuer Lizenzen für die Vermietung über Online-Plattformen wie Airbnb und, im Falle von Palma, Sperrfristen für die touristische Vermietung von Immobilien.
Barcelona greift zu noch drastischeren Mitteln: Die katalanische Stadt hat angekündigt, die Lizenzen für die Vermietung von rund 10.000 Ferienwohnungen an Touristen bis 2028 auslaufen zu lassen. Das soll etwas Druck aus dem Wohnungsmarkt nehmen. In den letzten zehn Jahren sind die Mieten in der Stadt um mehr als 60 Prozent gestiegen.
Für Kreuzfahrtschiffe gibt es zunehmend Beschränkungen oder höhere Gebühren. In Venedig dürfen die großen Schiffe seit 2021 nicht mehr zentral anlegen, ähnliches plant Amsterdam ab 2026. Das soll nicht nur die Touristenmassen, sondern auch die Luftverschmutzung reduzieren.
Gute und schlechte Touristen?
Ähnlich wie Amsterdam will auch Mallorca weg vom Party-Image. Es sollen insgesamt weniger Touristen kommen, dafür aber solche, die mehr Geld ausgeben. Hochwertiger Tourismus heißt das im Branchenjargon. Aber ist das die Lösung?
Nein, sagt Macià Blázquez-Salom. Der Spanier ist Einwohner von Palma de Mallorca, Geographie-Professor und Aktivist. Die Fokussierung auf Luxus-Tourismus würde die Ungleichheit nur noch verschärfen.
"Der Party- und Strand-Resort-Tourismus beschränkt sich auf spezielle Orte, der funktioniert quasi wie eine Fabrik", so Blázquez-Salom zur DW. Die direkten Auswirkungen seien entsprechend auf einen relativ kleinen Teil der Kommunen beschränkt.
Die ökonomisch besser gestellten Touristen hätten dagegen höhere Ansprüche, verbrauchten mehr Wasser, neigten dazu, mehr Kurztrips zu machen und hätten im Zweifel das Kapital, um Immobilien zu erwerben. "Das kurbelt die Gentrifizierungsmaschinerie an und mit ihr die Spekulation mit Immobilien", sagt Macià Blázquez-Salom. "Diese Touristen greifen insofern direkt in die Lebenswelt aller Bewohner ein."
Tourismus nachhaltig gestalten
Ein Großteil der Tourismusindustrie denkt - noch - in blanken Wachstumszahlen. Alljährlich steigende Besucherrekorde werden mit Freude aufgenommen. Für viele Einwohner in Städten wie Barcelona, Venedig oder Palma ist weiteres Wachstum dagegen keine Option. Was also tun?
Ein Ansatz könnte sein, die Anzahl der Touristen auf einem Niveau zu halten, das die Städte und Gemeinden noch vertragen könnten, sagt Paul Peeters.
Ökologische und soziale Faktoren sollten dabei eine zentrale Rolle spielen. Dafür müssten allerdings Abkommen mit Fluggesellschaften und den Betreibern von Häfen oder Flughäfen geschlossen werden, so der Tourismusforscher. Denn die seien oft auf Überkapazitäten ausgerichtet, also auf weiteres Wachstum.