Kurze Filme leben länger
2. Mai 2012Welche Rolle spielt der Kurzfilm eigentlich heute noch? Die Kurzfilmtage in Oberhausen, die gerade zu Ende gegangen sind, boten Gelegenheit darüber nachzudenken. Immer wieder heißt es, das Festival in der Ruhrgebietsstadt sei eines der wichtigsten Foren für den Kurzfilm weltweit. Doch gibt es dieses kurze Filmformat überhaupt noch? Hat es sich nicht längst aus dem Kino verabschiedet? Sind die Vorfilme, wie man sie früher regelmäßig vor dem Hauptprogramm zu sehen bekam, nicht trotz aller Bemühungen von Seiten der Filmtheaterbetreiber, der Verleiher und anderer Institutionen der Branche längst verschwunden?
Ein Festival trotzt dem Medienwandel
Natürlich weiß das auch Lars Henrik Gass, seit 1997 Leiter der Traditionsfestivals in Oberhausen. Und doch, die Kurzfilmtage leben, spielen innerhalb der deutschen Festivallandschaft nach wie vor eine wichtige Rolle. Dass das heute noch so ist, trotz des vielfach beschworenen Medienwandels, trotz verändertem Freizeitverhalten, trotz Internet und digitaler Revolution, das hat nicht zuletzt mit Lars Henrik Gass zu tun.
Er hat das Festival im Laufe der Jahre verändert, hat es für neue Formen geöffnet, zu einem lebendigen Raum des Diskurses gemacht. Und das will etwas heißen an einem Ort wie Oberhausen, dessen städtische Tristesse so manchem angereisten Besucher von außerhalb den Atem stocken lässt. Wer mag, der kann das soeben erschienene schmale Büchlein "Film und Kunst nach dem Kino" von Lars Henrik Gass als kulturphilosophischen Leitfaden in Sachen Film und Kino interpretieren, als konzeptuelles Festivalbrevier, dessen Gedanken weit über den Alltag hinausweisen.
Eine Art "Endstation" für Filme
Filmfestivals nähmen inzwischen eine ganz andere Funktion innerhalb der Kinolandschaft ein, sagt Gass im Gespräch mit der Deutschen Welle. Früher hätten Festivals vornehmlich die Aufgabe gehabt Filme zu zeigen, die dann später im Kino zu sehen gewesen seien. Inzwischen seien Festivals mehr eine Art "Endstation" für Filme. Häufig tauchten die dort gezeigten Streifen aus den verschiedensten Gründen im normalen Kinoalltag überhaupt nicht mehr auf: "Filmfestivals geraten in die historisch unvorhergesehene Rolle, eine kulturelle Verwertung von Filmen zu werden, für die es keine oder nur noch sehr beschränkte kommerzielle Perspektiven gibt."
Und da heute viel mehr Filme produziert werden, gibt es auch mehr Festivals: Gass berichtet, dass 1997, als er anfing, 2700 Filme für das Festival eingereicht worden seien, heute sind es über 6000. Nach Meinung des Leiters der Kurzfilmtage ist das eine begrüßenswerte Entwicklung. Klagen über ein angebliches Festival-Überangebot kann er nicht nachvollziehen. Es gebe schließlich ein interessiertes Publikum, ein kulturelles Bedürfnis.
Das Festival als Universität
Nicht jeder Festivalchef macht sich so viel Gedanken über die Zukunft. "Ich stelle mir ein Festival als große Universität vor", sagt Gass und was er damit meint, wird schnell klar, wenn man sich das Programm der diesjährigen Kurzfilmtage anschaut: da gibt es längst nicht mehr nur einen Wettbewerb mit ausgewählten Kurzfilmen aus Deutschland und aller Welt. Gass hat vor Jahren dem Musikvideo einen festen Platz im Programm eingeräumt. Ein Format übrigens, dass sich mit dem Niedergang von MTV inzwischen weiterentwickelt hat - auch das dokumentiert das Festival. Und natürlich hat die Flut an Kurzfilmen, die heute weltweit vorrangig für YouTube und ähnliche Abspielforen produziert werden, im Festivalprogramm seine Spuren hinterlassen.
Ein besonderes Gespür hat Oberhausen auch für Künstler entwickelt, die an der Schnittstelle zwischen Film und bildender Kunst arbeiten. Diskussionsforen befassen sich regelmäßig mit Themen, die über das Film-Programm hinausweisen. Begleitende Bücher und DVDs, die extra zum Festival erscheinen, ergänzen das Angebot. Und natürlich hat man sich auch den neuen Medien geöffnet. So gibt die Homepage der Kurzfilmtage nicht nur einen Überblick über das neue Programm, sondern ist aktuelles Diskussionsforum und Ort des anspruchsvollen Diskurses über das Medium. "Das Internet ist für uns keine Bedrohung, keine Konkurrenz, sondern eine Chance für das Festival", sagt Gass.
Erinnerung an 1962
Natürlich wurde auch der Erinnerung an die Verabschiedung des legendären "Oberhausener Manifests" von 1962, das den bundesdeutschen Nachkriegsfilm in seinen Grundfesten erschütterte, in diesem Jahr auf den Internetseiten viel Platz eingeräumt. Und dann fungierte das Festival diesmal sogar als "Produzent". Gass gab eine zehnteilige Internetserie in Auftrag. Nachwuchsregisseur Maximilian Linz macht sich in den einzelnen Teilen seiner Serie, die er "Das Oberhausener Gefühl" betitelt hat, Gedanken über die filmpolitische Revolution von 1962. "Schon das Zustandekommen dieser Serie sagt einiges über den Stand filmischer Produktionsbedingungen in Deutschland aus", so Maximilian Linz.
Lars Henrik Gass hat die altehrwürdigen Oberhausener Kurzfilmtage mit viel Gespür für den Zeitenwandel in das neue Medienjahrtausend geführt. Das Festival wirkt heute - sieht man einmal vom Ort ab - frisch und unverbraucht. Die Oberhausener Kurzfilmtage, sie leben!
Lars Henrik Gass: "Film und Kunst nach dem Kino", Philo Fine Arts, 134 Seiten, ISBN 978 3 86572 684 1, 10 Euro.