"Eine Unterschrift hat unser Leben verändert"
5. Dezember 2017Der Vorwurf lautet "Terrorpropaganda". Insgesamt 1128 türkische Akademiker schlossen sich im Januar 2016 dem Aufruf "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" an; sie kritisierten damit das harte Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten. Nun beginnt im Istanbuler Gerichtsgebäude Caglayan der Prozess gegen 150 der Akademiker.
Wenige Tage vor Prozessbeginn treffen wir den 41-jährigen Uraz Aydin in einem Istanbuler Café. Auch er unterschrieb vor fast einem Jahr den Friedensaufruf. Kurz darauf verlor er seine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Marmara-Universität. Die Entlassung erfolgte auf der Basis des Notstandsdekretes 686, das im Februar 2017 in Kraft trat.
Für Aydin war es ein harter Schlag. Er habe gerne an der Universität gearbeitet und spüre jetzt eine tiefe Sehnsucht nach all dem, was er hinter sich lassen musste, nach den Ergebnisssen seiner achtjährigen Forschungstätigkeit. Er hatte selbst Kommunikationswissenschaften an der Marmara-Universität studiert. Anschließend schrieb er seine Doktorarbeit am Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO) in Paris.
In seiner Doktorarbeit habe er sich damit beschäftigt, wie türkische Kolumnisten links-liberales Gedankengut verbreitet hätten. "Ich bin aktiv in der Gewerkschaft und habe meine linke Identität nie verheimlicht. Die Folgen davon bekam ich zu spüren. Während einige meiner Studenten später eine Dozentenstelle an der Universität bekamen, bekam ich keine solche Stelle."
Die Unterschrift, die Leben veränderte
Trotzdem habe Aydin sich niemals ausmalen können, welche Folgen eine Unterschrift unter dem Friedensaufruf für sein Leben haben könnte. Der Akademiker erinnert sich an seine damalige Fassungslosigkeit. Er habe den Aufruf zu einem Zeitpunkt unterzeichnet, als seine Kollegen und er die herrschenden Zustände einfach nicht mehr hinnehmen wollten.
"Unter Freunden haben wir uns auch schon gefragt, ob es unsere Unterschriften waren, die das Land dahin getrieben haben, wo es sich gerade befindet. Wir haben die Tagesordnung im Land bestimmt. Und dann hat sie unser aller Leben bestimmt."
Entlassung per Notstandsdekret
Nach jahrelanger Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter hatte sich Aydin vergangenes Jahr auf eine Dozentenstelle beworben - und sogar eine Zusage bekommen. Doch schon am nächsten Tag habe er erfahren, dass die Namen derer, die den Friedensaufruf unterzeichnet haben, an den Hochschulrat weitergeleitet wurden. "Meine Freude dauerte nur einen einzigen Tag", sagt er.
An diesem Tag habe das Warten auf die Liste des Notstandsdekrets begonnen. Als Aydin seinen Namen auf der Liste entdeckte, sei er erleichtert gewesen, sagt er, geradezu froh, dass der Stress des Wartens vorbei war. "Uns war schon klar, dass die Weiterleitung unserer Namen an den Hochschulrat gleichzeitig unsere Entlassung bedeuten würde. Aber dieses Warten strapaziert einfach die Nerven. Schließlich denkt man: Komme, was da wolle."
Solidarität gibt die Kraft, um weiter zu machen
Aydins Augen werden feucht, wenn er von dem Tag berichtet, an dem er seine Sachen aus dem Büro holte. Er habe nicht alle Bücher mitnehmen können, die er in 20 Jahren gesammelt hatte. Und es habe ihn tief getroffen, die Universität, in die er mit 19 Jahren eintrat, mit 40 Jahren verlassen zu müssen.
Aber was ihn wirklich berührte, war die Solidarität, die er dort erlebte: "Der Staat bezichtigt dich der Terrorpropaganda, und du erfährst eine gewaltige Solidarität. Das gibt dir die Kraft weiterzumachen", sagt Aydin. "Manchmal denkst du, dass dir großes Unrecht angetan wurde. Wer zerrt mich mit welchem Recht hier heraus, wo ich aufgewachsen bin?"
Der Prozess gegen Uraz Aydin begann gleich nach seiner Entlassung aus der Universität. In der Anklage steht, seine Tat sei nicht durch die Meinungsfreiheit und das Recht auf Kritik gedeckt. Der Aufruf sei offene Terrorpropaganda. Eine Erklärung von Bese Hozat, dem Co-Vorsitzenden des Exekutivrats der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) vom 27. Dezember 2015 wurde dafür als Beweis angeführt. Die Untergrundorganisation KCK wird als verlängerter Arm der PKK angesehen, die der türkische Staat als terroristische Vereinigung einstuft.
Auf die Frage, was er von der Anklage halte, sagt Aydin lächelnd: "Das ist schon ein bisschen zu viel." Sein Prozess geht im März weiter.
Kein Neuanfang im Ausland
Von der Idee, im Ausland ein neues Leben anzufangen, hält Uraz Aydin nichts. Er will seinem kleinen Sohn nicht das antun, was er selbst als Kind erlebt hat. Er wisse, wie schwierig es sei, ein neues Leben zu beginnen. So gibt er ein Gespräch mit seinem siebenjährigen Sohn wieder:
“Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Arbeit gekündigt habe. Er fragte: 'Warum?' Und dann meinte er: 'Warum hast du denn so etwas getan?' Er liebte mein Büro und meine Kollegen an der Universität und fragt ständig danach, ob er denn nun nie wieder dort hin gehen könne.”
Ihm sei klar, dass Akademiker harte Zeiten durchmachten, meine aber trotz der Entlassungen in dieser Zeit, auf der richtigen Seite gestanden zu haben. "Rückblickend betrachtet: Wie würdest du die Ereignisse bewerten, die nach deiner Unterzeichnung des Friedensaufrufs passiert sind?" frage ich ihn. Seine Antwort lautet, dass er nichts bereue - und er fügt hinzu: "Wir hatten die richtigen Werte und haben mit den richtigen Menschen die richtige Arbeit geleistet."