Vertrauliche Geburt
1. Mai 2014Sie wissen nicht mehr weiter und sind verzweifelt. Frauen, die ihre Schwangerschaft geheim gehalten oder verdrängt haben, geraten oft in Panik, wenn der Moment der Geburt näher rückt. Gabriele Stangl betreut Schwangere in so schwierigen Situationen. "Eine stand schon auf der Brücke und wollte sich herunterstürzen, eine andere hat beim Autofahren ständig daran gedacht, gegen einen Baum zu fahren", berichtet Stangl. Sie hat vor 14 Jahren am Krankenhaus Waldfriede in Berlin eine Einrichtung für anonyme Geburten und die "Babywiege" ins Leben gerufen.
Die "Babywiege" ist eine von etwa 100 sogenannte Babyklappen in Deutschland. Unerkannt können hier Frauen durch ein Fenster, das sich von außen öffnen lässt, ihr Neugeborenes in ein gewärmtes Bettchen legen. Kurz darauf werden dann automatisch Pfleger alarmiert, die sich des Babys annehmen. Befürworter der Babyklappe sagen, sie sei ein wichtiger Ort der Sicherheit, da Frauen ohne Alternative ihr Baby sonst möglicherweise auf Kirchenstufen oder andere Orte legten, wo es stundenlang nicht entdeckt werden würde.
Stangl ist gelernte Lehrerin, Pastorin und Mediatorin. Heute betreut sie die Verwaltung der Babyklappe und berät die Frauen, die sich wegen einer anonymen Geburt an das Krankenhaus in Berlin Zehlendorf wenden. Sie stellt Verbindungen zu Ärzten und Adoptionsstellen her und versucht, den Frauen ihre Ängste zu nehmen - ohne sie zu irgendetwas zu drängen. "Man kann eine Frau in so einer Situation nicht schütteln, bis sie ihren Namen ausspuckt", sagt Stangl.
Keine Rechtsgrundlage
Für Babyklappen und anonyme Geburten gibt es bislang keine gesetzliche Grundlage in Deutschland. Laut Grundgesetz hat jedes Kind das Recht, seine eigene Abstammung zu kennen - und das wird ihm genommen, wenn es in eine Babyklappe gelegt wird. Diese Einrichtungen werden aber in Deutschland geduldet.
Gruppen wie die Hilfsorganisation Terre des Hommes und der Deutsche Ethikrat protestieren seit Jahren gegen Babyklappen und anonyme Geburten. "Sie anonymisieren die Identität eines Kindes", sagt Michael Heuer, Sprecher von Terres des Hommes. "Das ist laut Gesetz verboten. Wenn Sie ein Kind zur Welt bringen, sind Sie ja auch verpflichtet spätestens nach einigen Tagen das Kind zu melden und anzugeben, wer Vater und Mutter sind." Mit der Einführung der "vertraulichen Geburt" könne man Einrichtungen für anonyme Geburten und Babyklappen endlich abschaffen, so Heuer. Schließlich gebe es jetzt eine ganz legale Alternative.
Mutter- und Kindsrechte wahren
Die Änderungen im Schwangerschaftskonfliktgesetz wurden bereits im März 2013 auf den Weg gebracht. Am Donnerstag (01.05.2014) tritt die neue Regelung zur vertraulichen Geburt in Kraft. Sie besagt, dass Frauen in einer Klinik oder einem Geburtshaus gebären können, ohne dort ihre vollständigen Daten wie Namen und Adresse angeben zu müssen. Dafür muss sich die werdende Mutter vorher bei einer von 1600 Beratungsstellen in Deutschland melden.
"Der Schwangeren wird für mindestens 16 Jahre Anonymität zugesichert", heißt es in einer Veröffentlichung des zuständigen Bundesfamilienministeriums. "Die Frau muss ihre Daten nur der Beraterin offenbaren, die zur Geheimhaltung verpflichtet ist. Die Daten werden sofort versiegelt und danach sicher verwahrt." Die Frau muss das Baby nach der Geburt zur Adoption freigeben. Nach 16 Jahren hat das Kind ein Recht darauf, den Namen der Mutter zu erfahren.
So sollen sowohl die Rechte des Kindes als auch die der Mutter gewahrt werden. Das Kind wird nicht über seine Herkunft im Dunkeln gelassen und die vertrauliche Geburt soll ein geschütztes Umfeld für die Frauen bieten. "Wir wollen erreichen, dass möglichst viele Schwangere den Weg in das zur Verfügung stehende Hilfesystem finden", sagte Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) am Dienstag (29.04.2014). So können mit Inkrafttreten des Gesetzes Frauen in Not bei einer kostenlosen Telefonhotline mit Beraterinnen sprechen - unter anderem auf Deutsch, Englisch, Türkisch, Russisch und Arabisch.
Zu hohe Hemmschwelle?
Gabriele Stangl von der Berliner "Babywiege" ist nicht davon überzeugt, dass Frauen in Notsituationen das Angebot nutzen werden. "Die Anonymität ist sehr, sehr wichtig, wenn es darum geht, den Erstkontakt herzustellen", sagt die Beraterin. "Wenn eine Frau von vornherein weiß, sie muss ihren Namen nennen, dann kommt sie nicht." Das hat Stangl gerade erst wieder festgestellt: Die Frau, der sie kurz vor dem DW-Gespräch bei einer anonymen Geburt beistand, bestätigte ihr, dass sie unter den Regeln der vertraulichen Geburt Stangls Beratungsstelle nicht aufgesucht hätte.
Auch der Deutsche Hebammenverband (DHV) ist mit dem neuen Gesetz nicht glücklich. Dort hält man die Hemmschwelle der Namensnennung ebenfalls für zu hoch. Außerdem bemängelt Katharina Jeschke vom DHV, dass die betroffenen Frauen ihre Kinder in jedem Fall abgeben müssen. "Es ist ja nicht gesagt, dass eine Frau, die ihre Anonymität wahren will, gleichzeitig nicht Willens oder in der Lage wäre, ihr Kind großzuziehen", sagt Jeschke. "Das gilt zum Beispiel für jene, die aus häuslichen Gewaltsituationen heraus in Frauenhäuser gegangen sind." Schwangere in einer solchen Situation, die bereit wären, ihren Namen einer Beraterin mitzuteilen, aber ihr Kind behalten wollen, fallen durchs Raster, so Jeschke.
Für Beraterin Stangl ist wichtig, dass sie trotz des neuen Gesetzes zur vertraulichen Geburt weiterhin Frauen helfen darf, die keinerlei Daten preisgeben wollen. Zu den Zuständen vor der Einführung von anonymen Geburten am Krankenhaus Waldfriede möchte sie auf keinen Fall zurückkehren. "Eine hochschwangere Frau kam hierher, die hat Hilfe gesucht und ich musste sie wegschicken, weil der Arzt gesagt hat, er möchte damit nichts zu tun haben", erinnert sich Stangl an diesen Impuls für ihr heutiges Engagement. "Ich hab mir damals geschworen, dass ich nie wieder eine Frau fortschicke, die weinend um Hilfe bittet."