Türkei: Planlosigkeit hinter markiger Rhetorik
12. Dezember 2016Deutsche Welle: Istanbul kommt nicht zur Ruhe. Das Doppelattentat im Stadtteil Beşiktaş ist bereits der fünfte schwere Terroranschlag seit Anfang des Jahres. Zuletzt wurden bei drei Selbstmordattentaten am Atatürk-Flughafen Ende Juni 45 Menschen getötet. Wie sehr wurde Istanbul von dem jüngsten Anschlag überrascht?
Kristian Brakel: Seit dem Anschlag in der Altstadt im Januar und spätestens seit dem Atatürk-Anschlag gibt es natürlich eine hohe Präsenz von Sicherheitskräften in den Straßen. Gleichzeitig versuchen die Bewohner zu verdrängen und zu vergessen, weil sie sonst überhaupt kein normales Leben mehr führen könnten. Jeder dieser Anschläge, vor allem einer wie jetzt, der an einem so zentralen Ort der Stadt stattgefunden hat, reißt die Leute also wieder aus der Verdrängung heraus und macht ihnen klar, dass die Terrorgefahr allgegenwärtig ist.
Präsident Erdogan kündigte am Wochenende an, "die Geißel des Terrorismus bis zum Ende" zu bekämpfen. Als Reaktion auf den Anschlag hat die Regierung 118 Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP festnehmen lassen. Welche Maßnahmen sind noch zu erwarten?
Die türkische Luftwaffe bombardiert PKK-Stellungen im Nord-Irak, das ist das übliche Vorgehen. Ansonsten hört man markige Rhetorik, aber vielen Leuten in der türkischen Regierung ist klar, dass sie diesen Kampf in der Form, wie er jetzt geführt wird, nicht gewinnen können. Das hat die Regierung ja schon die letzten 20 bis 30 Jahre versucht. Vielleicht wird noch einiges an militärischer Eskalation folgen, aber das wird das Problem nicht lösen.
Welche Auswirkungen hat der jüngste Anschlag auf das türkisch-kurdische Verhältnis?
Die Regierung betont ja immer wieder, dass sie Kurdinnen und Kurden als ganz normale Staatsbürger sehe. Es gibt ja auch führende kurdische Politiker in der AKP. Natürlich richtet sich aber diese nationalistische Rhetorik, die seit letztem Jahr auch aus anderen Gründen von der AKP befeuert wird und die immer stärker zunimmt, vor allem gegen Minderheiten wie Kurden und Armenier - und das macht sich auch in der Gesellschaft bemerkbar.
Es gibt seit letztem Jahr immer wieder Berichte von Übergriffen zum Beispiel auf kurdische Geschäfte oder auf Personen, die auf der Straße Kurdisch sprechen. Das ist etwas, was dem gesellschaftlichen Klima nicht gut tut und was natürlich noch weiter zunehmen wird. Gleichzeitig leben viele Türken und Kurden noch relativ unberührt davon. Es gibt in der Türkei beispielsweise viele türkisch-kurdische Ehen. Viele Türken nehmen Kurden in ihrem Umfeld als ganz normale Personen wahr, zumindest, solange sie nicht oppositionell tätig sind.
Unter dem Namen "Operation Euphrat-Schild" kämpft die Türkei in Syrien sowohl gegen den "Islamischen Staat" als auch gegen die Kurdenmiliz YPG. Wird der Anschlag die türkische Syrienpolitik beeinflussen?
Das glaube ich nicht. Vielleicht wird es als Teil einer Racheaktion zu verstärkten Angriffen gegen YPG-Einheiten in Syrien kommen. An dem erklärten Ziel, die YPG von der Grenze fernzuhalten und sie daran zu hindern, ein zusammenhängendes Gebiet zu etablieren, wird sich durch die Anschläge aber nichts ändern.
2016 sind in Istanbul insgesamt mehr als 100 Menschen bei Terroranschlägen getötet worden. Wie hat dieses Jahr das öffentliche Leben in der Metropole verändert?
Das deutlichste Zeichen, dass es sich tatsächlich verändert hat, ist natürlich der ausbleibende Tourismus. Den jüngsten Zahlen zufolge ist der Tourismus im Vergleich zu 2015 um 40 Prozent zurückgegangen. Das sieht man ganz stark, wenn Sie durch Touristenviertel gehen, aber auch durch die Innenstadt. Die İstiklâl Caddesi, das ist die wichtigste Einkaufsstraße, war früher knallvoll mit Touristen, jetzt sieht man dort vor allem Einheimische. Die Touristen kommen vor allem aus den arabischen Golfländern, westliche Touristen sieht man kaum noch. Außerdem haben die Sicherheitsmaßnahmen stark zugenommen: An der U-Bahn sind jetzt Polizeikontrollen, es sind viel mehr bewaffnete Polizisten in der Stadt zu sehen. Früher standen sie vor allem um den Taksim-Platz herum, um Demonstrationen zu verhindern. Das hat jetzt eine andere Qualität. Aber für viele Leute, die sich nicht politisch betätigen, geht das Leben trotzdem normal weiter.
Der Islamwissenschaftler Kristian Brakel ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Das Gespräch führte Helena Kaschel.