Libyen: Gestrandete Migranten brauchen Hilfe
15. März 2018Deutsche Welle: Es gibt erneut Berichte, dass sudanesische Migranten in Libyen als Geiseln missbraucht werden, um Lösegeld von Familien daheim zu erpressen. Vor einigen Wochen war die Empörung groß, als berichtet wurde, dass Migranten in Libyen als Sklaven verkauft werden. Sind das einzelne Fälle? Wie würden Sie die Lage der Migranten in Libyen beschreiben?
Vincent Cochetel: Dieses Phänomen der Ausbeutung und der Erpressung von inhaftierten Migranten durch kriminelle Banden ist verbreitet und geht weiter, nicht nur in Libyen, sondern auch in den Staaten auf dem Weg nach Libyen. Das ist nicht neu, das wussten wir auch schon, bevor zum Beispiel CNN berichtet hatte. Unglücklicherweise ist es sehr schwer, dagegen vorzugehen. Die Justiz in Libyen versucht Haftbefehle für einige Leute, die man ja kennt, zu vollstrecken. Man kommt an die aber nicht heran, weil sie von Milizen geschützt werden. Die Regierung der nationalen Einheit hat das Territorium von Libyen nicht unter Kontrolle. Das macht es sehr schwer, die Kriminellen wirklich vor Gericht zu stellen.
Der UNHCR versucht, einige der schwächsten Flüchtlinge zu retten oder auch in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Dabei arbeiten sie mit der Europäischen Union zusammen. Macht die EU in diesem Bereich genug?
Die EU und auch einige Mitgliedsstaaten geben uns finanzielle Mittel, damit wir dabei helfen können, Migranten aus Libyen, Tunesien und Niger zu evakuieren. Wir versuchen, sie in andere Länder umzusiedeln. Im Moment haben wir einige Zusagen für eine Umsiedlung, aber die Zahlen sind sehr bescheiden. Es geht um 2400 Plätze für Menschen in Niger. Insgesamt sind das rund 25.000 Plätze für alle 15 Staaten, aus denen Migranten und Flüchtlinge nach Libyen kommen. Von diesen benötigten 25.000 Plätzen für Umsiedlung hat Europa bislang erst 7000 zugesagt. Die EU kann also sicherlich mehr tun. Umsiedlung ist sicherlich nicht die eine wundersame Lösung des Problems, aber sie ist ein Teil der Lösung, um die irreguläre Zuwanderung nach Libyen zu verringern.
Die Zahlen sind also viel zu gering, gemessen am Bedarf?
Ja, wir bräuchten viel mehr. Wir würden gerne in diesem Jahr allein aus Libyen 10.000 Menschen umsiedeln. Diese Zahl werden wir auf keinen Fall erreichen, wenn es nicht zu einer größeren Mobilisierung in der EU kommt.
Die EU versucht die Fluchtroute über das Mittelmeer von Libyen nach Italien zu schließen. Die Zahl der Migranten ist stark gefallen. Welche Auswirkungen hat diese Politik auf die Migranten in Libyen?
Man muss sehen, dass die Ankünfte in Italien viel niedriger sind als vor einem Jahr. Es ist nur noch ein Drittel, also rund 5000 Menschen in diesem Jahr bisher. Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt aus dem Blickwinkel der EU. Erfolg bemisst sich meiner Meinung nach nicht nur an sinkenden Ankunftszahlen für Italien, sondern man muss auch die sehr schlechte Lage der Menschen in Libyen und benachbarten Staaten im Blick haben. Es ist wichtig, in den Aufbau eines vernünftigen Systems zu investieren, um die Kapazitäten der Nachbarländer auszubauen. Dann fühlten die Menschen nicht den Drang, nach Libyen zu ziehen mit der Hoffnung, irgendwann Europa zu erreichen.
Stauen sich die Flüchtlinge und Migranten jetzt in Libyen oder kommen erkennbar weniger aus den afrikanischen Nachbarstaaten nach Libyen, da sie ja wissen, dass sie nicht mehr weiterkommen?
Obwohl die Menschen wissen, wie gefährlich es ist, nach Libyen zu gehen, denken viele immer noch, es sei einen Versuch wert. Denn viele vor ihnen haben es ja geschafft, nach Italien zu gelangen. Sie werden es weiter versuchen. Viele Menschen kommen aber auch, um Arbeit in Libyen zu finden. Libyen hat eine lange Tradition, Einwanderern aus Staaten südlich der Sahara Arbeit zu bieten. So lange es in den Transitstaaten keine durchschlagende Änderung gibt, werden die Menschen weiter nach Libyen ziehen. Es gibt keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse, dass jetzt weniger Menschen kämen. Wir kennen signifikante Zugänge aus Tschad, Sudan und Algerien. Es kommen weniger aus Niger direkt nach Libyen.
Was wäre Ihre ideale Vorstellung? Was könnte Europa augenblicklich unternehmen, um die Lage zu verbessern?
Zunächst müssten wir den politischen Friedensprozess in Libyen fortsetzen. Dann müsste man Wahlen abhalten. Wir brauchen Versöhnung und Stabilität in dem Land. Die Stammeskämpfe müssen aufhören. Milizen, die in alle Arten von Schmuggel und Menschenhandel verwickelt sind, müssten aufgelöst und entwaffnet werden. Wir müssen außerdem die Konflikte in den Herkunftsländern angehen. Die Menschen kommen ja nicht nach Libyen, weil das so viel Freude macht. Manche kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Manche kommen, weil sie die Konflikte nicht mehr aushalten. Wenn man sich die letzen fünf Jahre anschaut, stellt man fest, dass außer vielleicht Gambia kein einziger Konflikt gelöst wurde. Es sind sogar neue Konflikte, Kriege dazugekommen. Wir müssen diese Wurzeln der Migration anpacken.
Wie weit werden denn die Herkunftsländer der Verantwortung für ihre eigenen Bürger gerecht? Sollte man nur auf Europa schauen oder auch diese Länder zur Verantwortung ziehen?
Das ist ein Teil des Dialoges, der beim EU-Afrika-Gipfel in Valletta (November 2016) in Gang gebracht wurde. Es soll eine berechenbare Partnerschaft zwischen Afrika und der EU geschaffen werden. Das müsste aber alles sehr viel schneller gehen. Wir brauchen eine bessere Koordination der bilateralen und multinationalen Hilfen. Das muss ein Geben und Nehmen werden. Wir können nicht nur über die Rückführung von Migranten nach Afrika sprechen. Es stimmt, dass Abschiebung und Rückführung für die, die kein Recht haben in Europa zu bleiben, sein müssen. Es ist wichtig, das Asylrecht für diejenigen zu bewahren, die wirklich Asyl brauchen. Gleichzeitig muss man versuchen, die Migrationsursachen abzustellen. Das passiert in einigen dieser Länder nicht.
Können Sie feststellen, dass sich die Migrationsrouten bereits verlagern, weg von Libyen, weg von der Mittelmeerroute, jetzt wo der Weg versperrt wird?
Nein, noch nicht in nennenswerten Zahlen. Wir haben mehr Überfahrten von Marokko nach Spanien. Wir sehen, dass mehr Afrikaner aus Länder südlich der Sahara nach Algerien reisen und von da nach Marokko gehen, obwohl die Grenze offiziell eigentlich geschlossen ist. Libyen bleibt der Magnet, weil die instabile Lage den Schleusern das Geschäft ermöglicht. Es gibt keine nennenswerten Überfahrten von Algerien, Tunesien oder Ägypten aus.
Vincent Cochetel ist Beauftragter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) für die Mittelmeerroute und die Situation in Libyen. Zuvor leitete der französische Jurist, der seit 1986 für den UNHCR arbeitet, dessen Brüsseler Büro.
Das Gespräch führte Bernd Riegert.