Visaginas: Die post-sowjetische Atomstadt
Anders als im Rest des Baltikums sind Russen in Litauen klar in der Minderheit. Außer in Visaginas. Das prägt die Stadt bis heute. Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen sind aber sehr selten.
Links die Bäume, rechts die Bäume...
…und dazwischen Zwischenräume: Visaginas im Nordosten Litauens ist eigentlich mehr ein Kiefernwald mit Häusern als eine klassische Stadt. Erst 1975 wurde sie gebaut - mitten in einem Naturpark mit Seen. Die jüngste Stadt Litauens. Und die wohl vielfältigste: 43 verschiedene Volksgruppen leben hier.
Sowjetisches Erbe
Gedacht war Visaginas als Siedlung für die Arbeiter im nahegelegenen Atomkraftwerk Ignalina. Der Führer der kommunistischen Partei Litauens, Anatas Sniečkus, war seinerzeit gegen das AKW. Doch nach seinem Tod war der Weg frei - und Moskau benannte die Stadt nach ihm. Ein "Dank" unter sowjetischen Brüdern.
Verblassende Strahlkraft
Sniečkus ist inzwischen vergessen. Auch das AKW geht seinem Ende entgegen: 2009 wurde der letzte Reaktor abgeschaltet. Die Demontage wird zwar noch mindestens 20 Jahre dauern, doch die Hälfte der Mitarbeiter wurde bereits entlassen. Wer gut ausgebildet war, zog weg. 2001 hatte Visaginas noch 30.000 Einwohner - heute sind es 22.000.
"Viele Freiheiten"
Oleg Račkovskij lebt seit 1986 in Visaginas: "Ich fühle mich wohl, weil ich hier russisch sprechen kann. Die litauische Regierung lässt uns viele Freiheiten." Trotzdem achtet die Stadtverwaltung auf die Sprache: Ausschließlich russischsprachige Schilder sind in Geschäften zum Beispiel nicht erlaubt.
Gemeinsam gedenken
Ansonsten ist die Toleranz groß: Der 9. Mai wird von allen Volksgruppen in der Stadt gemeinsam begangen. Dann legen sie Blumen nieder am Grabmal des unbekannten Soldaten: Hier wird aller Gefallenen des zweiten Weltkriegs gedacht.
"Konflikte gibt es kaum"
"Uns geht es nicht um Politik, sondern um die gemeinsame Kunst", sagt Danutė Morkūnienė, die Leiterin des örtlichen Kulturzentrums. Deshalb habe die Ukraine-Krise auch nichts geändert am Zusammenleben. Im Zentrum treffen sich Russen, Ukrainer, Tartaren, Polen, Weißrussen, Litauer - und sogar ein paar Deutsche. Jede Volksgruppe habe ihr Fest und die anderen nähmen teil, sagt sie.
Ende des Aufstiegs?
Vor dem Rathaus schwebt der Kranich als Wappentier - und Symbol für Klugheit und Achtsamkeit. Geringe Arbeitslosigkeit und gute Löhne haben auch dazu beigetragen, dass die Bürger friedlich miteinander leben. Wenn sich aber keine Alternative zur Beschäftigung im AKW findet, könnte bald der Absturz folgen.