Was Bayer Leverkusen von Leicester City lernen kann
14. Januar 2024"Ich denke, es ist wichtig, dass man sich die Vorstellung erlaubt, wie es wäre, die Meisterschale in die Höhe zu stemmen und von Tausenden Fans gefeiert zu werden", sagt Robert Huth der DW. Der ehemalige deutsche Nationalspieler und WM-Teilnehmer weiß, wie es sich anfühlt, wenn man als absoluter Außenseiter einen unerwarteten Erfolg feiert. Huth hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Leicester City im Jahr 2016 die englische Premier League gewann.
"Man muss sich treiben lassen. Man muss sich all diese Erlebnisse vorstellen, wie großartig es wäre", sagt Huth. "Aber es ist auch wichtig, dann wieder in die Realität zurückzukehren, die im Grunde aus dem nächsten Training und dem nächsten Spiel besteht."
Bestandene Reifeprüfung in Augsburg
Fokus auf das nächste Training und das nächste Spiel - an diese Marschroute scheint sich auch die derzeitige Überraschungsmannschaft der Fußball-Bundesliga zu halten. Zwar hat Bayer 04 Leverkusen keinen ähnlichen Status als Underdog, wie in vor acht Jahren Leicester hatte, doch hätte kaum jemand damit gerechnet, dass sich das Team von Trainer Xabi Alonso so stabil an der Spitze hält und auch mit Rückschlägen zurechtkommt.
Das erste Spiel nach der Winterpause war ein weiterer Beweis dafür, dass sich in den Köpfen der Werkself-Spieler etwas verändert hat: Erst in der 94. Spielminute fiel beim intensiv verteidigenden FC Augsburg das ersehnte 1:0 zum Sieg - eine bestandene Reifeprüfung. Früher hat sich Bayer an solchen Gegnern trotz klarer Überlegenheit oft die Zähne ausgebissen und stattdessen sogar ein Gegentor kassiert und unnötige Niederlagen eingesteckt. "Das Tor", sagte Alonso nach dem Sieg, "war kein Glück, sondern die Belohnung für ein gutes Spiel."
Vertrauen als Erfolgsrezept
Die Leverkusener bleiben damit weiterhin ungeschlagen. Sie stehen seit dem sechsten Spieltag auf Rang eins der Tabelle und sind jetzt nach 17 von 34 Partien sogar "Halbzeit-Meister". Leicester war in seiner Meister-Saison zeitweise Tabellenführer, aber zur Hälfte nur Zweiter. Allerdings übernahm die Mannschaft am 23. Spieltag wieder die Spitze und gab sie danach nicht mehr her. Die "Foxes" verloren nur eines ihrer letzten zwölf Spiele und gewannen den Titel mit einem bemerkenswerten Vorsprung von zehn Punkten vor Verfolger FC Arsenal.
Für Robert Huth lag ein Schlüssel zum Erfolg damals darin, dass die Spieler das Vertrauen ihres Trainers spürten. Leicesters Cheftrainer Claudio Ranieri kümmerte sich nicht nur um seine Spieler als Menschen, sondern gab ihnen auch das Gefühl, dass sie in der Lage sein würden, auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen. Hinzu kam, dass man sich gegenseitig mit guten Leistungen anstachelte und noch besser machte.
"Wenn ich zum Beispiel sehe, dass Danny Simpson [Teamkollege Huths in Leicesters Abwehrkette, Anm.d.Red.] ein hervorragendes Spiel macht, möchte ich genauso gut sein", sagt Huth. "Das ist es, was mich anspornt. Wenn ich sehe, dass jemand anderes in der Mannschaft wirklich gut spielt, kann ich ihn nicht im Stich lassen", beschriebt er die damalige Einstellung innerhalb der Mannschaft.
24-Stunden-Regel und gute Abstimmung
Zudem hatte man es sich bei Leicester zur Regel gemacht, nicht länger als 24 Stunden über das letzte Spiel nachzudenken - egal ob es erfolgreich war oder nicht. Nach dieser Zeitspanne wurde die Konzentration für das kommende Spiel neu aufgebaut. Der gebürtige Ostberliner gibt zu, dass dieser Ansatz ihm und der Mannschaft geholfen hat, in die Gegenwart zurückzukehren.
"Die Spieler können träumen", sagt Huth. "Aber es braucht Leute, wie die Physiotherapeuten, die Fitnesstrainer, die Konditionstrainer, die Trainer, die einen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen müssen. Denn wenn man am Wochenende gewinnt und immer noch Erster ist, kommt man am Montagmorgen in die Kabine und denkt, man sei der Beste, unantastbar. Aber man braucht diese Bodenhaftung."
Ein weiterer Faktor war die gute Abstimmung untereinander. In der erfolgreichen Premier-League-Saison 2015/2016 lief Leicester 13 Mal in 38 Spielen mit der gleichen Startelf auf. Das klingt nach nicht viel, aber die "Foxes" waren damals eines von nur vier Teams, dass die gleiche Konstanz bei der Startformation hatte. Alle anderen Mannschaften wechselten häufiger. Auf eine feste Stammelf setzt auch Xabi Alonso bei Bayer Leverkusen. Bislang standen in 17 Partien beim Anpfiff zehnmal die gleiche Formation auf dem Rasen.
"Weniger ist manchmal mehr", sagt Robert Huth. "Jeder kennt seine Aufgabe und man baut Beziehungen auf. Man macht Dinge sozusagen automatisch, wenn man 100-mal mit jemandem zusammenspielt."
Verletzter Boniface und Spieler beim Afrika-Cup
Parallelen zwischen Leicester und Leverkusen sind erkennbar, in vielerlei Hinsicht ist die Situation der beiden Teams aber auch nicht vergleichbar. Leicester blieb von Verletzungen verschont. Auch musste der Klub nicht mitten in der Saison mehrere Stammkräfte für den Afrika-Cup abstellen. Beides ist in Leverkusen der Fall. Mit Edmond Tapsoba (Burkina Faso) und Odilon Kossounou (Elfenbeinküste) fehlen zwei Spieler, die normalerweise neben Jonathan Tah in der Abwehrkette stehen. Flügelstürmer Admin Adli tritt mit Marokko beim AFCON an.
Stürmer Victor Boniface, mit zehn Bundesliga-Toren erfolgreichster Schütze, sollte mit Nigeria ebenfalls an der afrikanischen Kontinentalmeisterschaft teilnehmen. Allerdings hat er sich an der Leiste verletzt, wurde operiert und fällt nun sogar noch länger aus, als es wegen des Afrika-Cups der Fall gewesen wäre.
Knapper Vorsprung auf konstante Bayern
Leicesters Vorteil war, dass die Verfolger - Manchester City, FC Arsenal und Tottenham Hotspur - immer wieder Punkte liegen ließen, während der spätere Meister konstant spielte. Hinter Leverkusen liegt mit dem FC Bayern der Serienmeister der vergangenen zehn Jahre. Die Münchener haben sich bislang kaum eine Blöße gegeben. Zwei Unentscheiden und eine hohe Niederlage gegen Eintracht Frankfurt gab es, ansonsten nur Siege.
Rechnet man ein, dass die Bayern ihr Nachholspiel gegen Union Berlin ebenfalls gewinnen, liegen sie virtuell nur einen Punkt hinter Tabellenführer Leverkusen. "Für uns ist es wie bei einem Marathon", sagte Bayers Jonas Hofmann nach dem Sieg in Augsburg über den Titelkampf. "Wir bleiben demütig und machen unseren Job."
Doch während die Münchener den Ruf haben, in der Rückrunde ihren besten Fußball zu spielen, hat die Werkself eine Vergangenheit dabei, Titel auf der Zielgeraden zu verspielen. Am letzten Spieltag der Saison 1999/2000 verlor Bayer die Meisterschaft aufgrund der schlechteren Tordifferenz an Bayern München, nachdem man gegen Außenseiter Unterhaching nicht den nötigen Punkt geholt hatte.
Zwei Jahre später verspielte Leverkusen innerhalb eines Monats die Meisterschaft, verlor das DFB-Pokal-Finale und das Endspiel der Champions League und machte seinem Spitznamen "Vizekusen" damit traurige Ehre. 2009 schließlich blieb Leverkusen mit dem aufstrebenden Toni Kroos im Kader 24 Spiele lang ungeschlagen, um dann fünf der letzten zehn Spiele zu verlieren und letztlich nur Vierter zu werden.
Robert Huth: "Einfach das Beste"
Ob diese Dinge für die heutigen Bayer-Profis noch eine Rolle spielen? Leverkusens ehemaliger Torhüter René Adler glaubt nicht daran. "Demut ist wichtig, aber die neuen Charaktere sorgen ja auch für ein anderes Denken", sagte er kürzlich im Fußball-Fachmagazin "Kicker". "Ich glaube nicht, dass neue Spieler wie Boniface oder Alejandro Grimaldo überhaupt wissen, was 'Vizekusen' ist - und Xabi Alonso weiß selbst, wie man Titel gewinnt."
Letztlich müssen die Leverkusener das schaffen, was Robert Huth und seinen Teamkollegen vor acht Jahren glückte: Die Lust zu gewinnen, muss größer sein, als die Angst zu verlieren. "Ich habe mit so vielen Spielern zusammengespielt, die nie etwas gewinnen konnten. Sie haben 17 Jahre lang gespielt und sind Achter oder Neunter geworden, was brutal ist, aber das ist doch Spitzensport, oder?", erinnert sich Huth. "In diese Position zu kommen, in der man gewinnen kann, ist einfach das Beste. Und wir haben den ganzen Druck auf uns genommen."
Am Ende durfte er dann tatsächlich die Meister-Trophäe in die Höhe recken. "Das ist buchstäblich das größte Glück."
Der Text wurde teilweise aus dem Englischen adaptiert.