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PolitikNahost

Was bedeutet Sinwars Tod für Hamas, Gaza und den Libanon?

19. Oktober 2024

Analysten sind der Ansicht, dass die Tötung von Hamas-Führer Jihia al-Sinwar kein Todesstoß für die Gruppe ist. Die Aussichten auf einen Waffenstillstand sind unklar.

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Eine Frau hält ein Schild mit der Aufschrift "Sinwar's end > End of war" hoch. Im Hintergrund ist ein Schild mit der Aufschrift "Hostage Deal now" zu sehen
Nach der Tötung Sinwars kommen Hoffnungen auf ein Ende des Kriegs und auf Freilassung der Geiseln aufBild: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance

Nach Meinung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bedeutet die Tötung des politischen Führers der Hamas, Jihia al-Sinwar, dass "die Hamas den Gazastreifen nicht länger regieren wird". Seiner Ansicht nach markiert Sinwars Tod den Beginn des "Tages nach der Hamas".

Beobachter sehen jedoch eine andere Zukunft für die vom Iran unterstützte Hamas-Miliz, die von den USA, der EU und zahlreichen weiteren Ländern als Terrororganisation eingestuft wird. "Die Tötung Sinwars ist sicherlich ein Schlag für die Hamas, wenn man die wichtige Rolle bedenkt, die er innerhalb der Organisation gespielt hat", sagt Neil Quilliam vom Nahost- und Nordafrika-Programm des Londoner Thinktanks Chatham House der DW. Doch Quilliam betont, dass die Politik der Tötung der Hamas-Führung in der Vergangenheit wenig dazu beigetragen habe, den Willen und die Fähigkeit der Hamas gegen Israel zu kämpfen, zu untergraben - etwa, als der 61-jährige Sinwar im Juli dieses Jahres nach der Tötung des früheren politischen Führers der Hamas, Ismail Hanija, in Teheran die Macht übernahm.

Getöteter Hamas-Chef Sinwar: Brutalität als Markenzeichen

"Die Hamas wird sich erholen, indem sie auf eine neue Generation von Führern zurückgreift, ihre militärischen und technologischen Kapazitäten weiterentwickelt und junge Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland anspricht, die durch den Konflikt mit Israel verroht sind", so Quilliam. Dieser Ansicht ist auch Peter Lintl, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Die Hamas ist sicherlich geschwächt, aber Sinwars Tod ist kein Todesstoß für die Miliz", sagt er der DW.

Hoffnung auf Waffenstillstand

Unterdessen haben deutsche, französische und US-amerikanische Vertreter die Hoffnung geäußert, dass Sinwars Tod eine Chance für einen Waffenstillstand im Gazastreifen bieten könnte. Sinwars Abgang vom Schlachtfeld "bietet die Möglichkeit, einen Weg zu finden, der die Geiseln nach Hause bringt, den Krieg beendet und uns zu einem Tag danach bringt", so der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan.

Doch am Freitag, nur einen Tag nach der Bestätigung von Sinwars Tod, erklärte die Hamas, die Geiseln bis zu einem Ende des Krieges im Gazastreifen festzuhalten. In den vergangenen 12 Monaten des Krieges im Gazastreifen, der durch den tödlichen Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde, sind nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden rund 42.000 Menschen getötet worden. Von den rund 250 Geiseln, die Hamas-Kämpfer seinerzeit in den Gazastreifen verschleppten, sollen noch etwa 100 dort festgehalten werden.

"Verpasste Chance"

Mohammed al-Qawas vom Thinktank Emirates Policy Center (EPC) in Abu Dhabi sieht in Sinwars Tod jedoch den möglichen Beginn eines "neuen Kapitels" des Krieges im Gazastreifen. "Sobald die Verantwortung für die Waffenstillstandsverhandlungen auf Hamas-Führer im Ausland übertragen wird, werden diese Verhandlungen auch externen Einflüssen unterliegen, denn all diese Führer im Ausland werden von den Hauptstädten der Länder, in denen sie sich befinden, beeinflusst, und vielleicht ist es dadurch möglich, dass die Hamas Zugeständnisse machen und eine neue Politik einleiten kann", sagt er der DW.

In einem teilweise zerstörten Wohnzimmer sitzt eine vermummte Person in Militärkleidung
Ein von einer israelischen Drohne aufgenommenes Video soll Hamas-Chef Sinwar zeigenBild: ISRAEL DEFENSE FORCES/REUTERS

Die politische Führung der Hamas hat ihren Sitz in Katar, doch der zuletzt im Gazastreifen lebende Hardliner Sinwar war seit der Tötung Hanijas ihr Ansprechpartner bei den von den USA, Katar und Ägypten geführten Waffenstillstandsverhandlungen mit Israel. Lintl von der SWP sagt der DW, er sehe trotz Sinwars Tod wenig Grund zur Hoffnung, dass Israel nun bereit sein könnte, den Krieg zu beenden. Obwohl der israelische Premierminister Netanjahu am Donnerstag den Tod Sinwars als das Ende der Hamas begrüßte, machte er auch deutlich, dass der Krieg erst dann beendet sei, wenn die verbleibenden Hamas-Führer – wie Mohammed Sinwar, der Bruder von Jihia al-Sinwar und dessen Nachfolger als Hamas-Militärchef – eliminiert seien und alle Geiseln, die die Hamas im Gazastreifen noch festhält, freigelassen würden.

Für James M. Dorsey, Experte für die Region an der S. Rajaratnam School of International Studies und dem Middle East Institute in Singapur, stellt diese Vorgehensweise eine verpasste Chance dar. "Anstatt Israels taktischen Erfolg zu nutzen, um den Sieg im Gazastreifen zu erklären, auf einen Waffenstillstand zu dringen, der auch die Feindseligkeiten im Libanon beenden könnte, und einen Gefangenenaustausch auszuhandeln, der die Freilassung der 101 verbleibenden, von der Hamas festgehaltenen Geiseln sichern würde, bestand Premierminister Benjamin Netanjahu darauf, dass der Krieg so lange weitergehen würde, bis das israelische Militär die Gefangenen befreit", schrieb er auf seinem politischen Blog "The Turbulent World".

Jenseits des Gazastreifens – die Vergeltung der Hisbollah

Neben dem Israel-Hamas-Krieg im Gazastreifen ist nach einem Jahr mit eher begrenzten Auseinandersetzungen an der israelischen Nordgrenze auch der Konflikt mit der Hisbollah im Libanon eskaliert. Die Schiitenmiliz beschießt Israel immer wieder mit Raketen. Die israelische Armee begann Anfang des Monats neben Luftschlägen auch
mit einer Bodenoffensive im Nachbarland.

Die vom Iran unterstützte Hisbollah – die von den USA, Deutschland und weiteren Ländern als Terrororganisation eingestuft wird – erklärt, sie handele zur Unterstützung der Hamas. Im September hatte Israel Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah getötet. Beobachter weisen darauf hin, dass derartige Tötungen nicht zur Beendigung der Feindseligkeiten beigetragen hätten.

Herzi Halevi trägt Soldatenkleidung und spricht zu anderen Soldaten. Rundherum sieht man zerstörte Gebäude
Herzi Halevi, der Chef der israelischen Armee (Mitte), inspiziert die Gegend, in der Sinwar zuvor getötet worden warBild: Israel Defense Forces/XinHua/picture alliance

Als der Tod Sinwars am Donnerstag bekannt wurde, verkündete die Hisbollah eine "neue und eskalierende Phase" ihres Krieges mit Israel und behauptete, sie habe zum ersten Mal präzisionsgelenkte Raketen gegen Israel eingesetzt, um "von Tag zu Tag zu eskalieren".

Und auch aus dem Iran kommen Töne, die nicht auf eine Beruhigung der Lage schließen lassen. So sagt Irans Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei, dass der Tod Sinwars den Kampf gegen den Erzfeind Israel nicht aufhalten werde. "Sein Tod ist zwar schmerzhaft, aber die Achse des Widerstands (gegen Israel) wird weiterleben und den Kampf weiterführen", so Chamenei.

Mitarbeit: Mohamed Farhan

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.