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PolitikEuropa

Booker Prize für "Zeitzuflucht"

24. Mai 2023

Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov hat für seinen Roman "Zeitzuflucht" den Booker Prize bekommen. Das Buch passt erschreckend gut in die Zeit von Moskaus Krieg gegen die Ukraine.

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Russland | Militärparade am 9. Mai in Moskau
Ein sowjetischer T-34-Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg bei der Parade zum Tag des Sieges in Moskau am 9. Mai 2022Bild: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

"Wir neigen dazu, in der Vergangenheit zu leben, den Kopf in den Sand zu stecken und der Gegenwart zu entfliehen. Manchmal denken wir sogar, die Vergangenheit sei unsere Zukunft", sagt Georgi Gospodinov im Gespräch mit der DW.

In seinem Roman "Zeitzuflucht", der im März 2022 auf Deutsch erschienen ist und für den er nun (23.05.2023) den prestigeträchtigen britischen Booker-Literaturpreis bekam, zeichnet der bulgarische Autor eine Welt, in der die Menschen Zuflucht in der Vergangenheit suchen. Was am Anfang als Therapie für Alzheimer- und Demenzkranke gedacht war, wird zu einer Dystopie: In jedem europäischen Land wird per Referendum ein Jahrzehnt gewählt, in das alle zurückwollen. Am Ende der Geschichte führt dies zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs.

Bulgarischer Autor Georgi Gospodinov
Der 54-jährige Georgi Gospodinov ist einer der international bekanntesten bulgarischen SchriftstellerBild: Italy Photo Press/IMAGO

Für Gospodinov ist das Buch eine Warnung, die mit Moskaus Krieg gegen die Ukraine nun zur Realität geworden ist. "Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Referendum über Russlands Vergangenheit", so der Autor. "Laut Putins Plan soll zuerst der Status Quo vor den NATO-Osterweiterungen ab 1997 wiederhergestellt werden. Dann die Situation von 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und letztendlich wird die Zeit zum 1. September 1939 zurückgedreht, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs."

Der Schriftsteller sieht viele Parallelen zu 1939. "Putin ging in den Ukraine-Krieg mit der Behauptung, die Ukraine existiere einfach nicht - das erinnert an die Art und Weise, wie Stalin am 17. September 1939 in Polen einmarschiert ist. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 um 4:47 Uhr morgens, der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein paar Minuten später."

Nationalismus bedroht Europa

Gospodinov hat seinen Roman mit einem Leitsatz versehen: "Und als sie zurückblickten, sahen sie ihre Zukunft". Der Schriftsteller glaubt, dass der Nationalismus - und damit die Wiederholung der Vergangenheit - heute die größte Bedrohung für Europa ist: "An sich sollte Europa gegen dieses Virus resistent sein, und doch hat es sich in den letzten Jahren immer mehr ausgebreitet", so Gospodinov.

Russland | Militärparade in Moskau
Sowjetische und russische Fahnen, Parolen und Uniformen bei der Parade am 9. Mai 2022 in MoskauBild: Maxim Shemetov/REUTERS

Der 54-Jährige ist einer der international bekanntesten bulgarischen Schriftsteller. Sein Erstling "Natürlicher Roman" (1999) ist das meistübersetzte bulgarische Buch nach dem Fall der Diktatur der Kommunisten 1989. Die Animationsverfilmung seiner Kurzgeschichte "The Blind Vaisha" (2001) wurde bei der Oscarverleihung 2017 als bester animierter Kurzfilm nominiert. Die englische Übersetzung von "Zeitzuflucht" gewann bereits 2021 den renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega.

George Orwell 2.0

Die britische Zeitung The Times bezeichnetet den Autor gar als "bulgarischen George Orwell". Aus dessen Hauptwerk "1984" stammt der Satz: "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft". Gospodinov aktualisiert diesen Gedanken: Die nationalistischen Bewegungen von heute versuchten, das historische Gedächtnis der Menschen durch eine falsche Vergangenheit zu ersetzen, meint der Schriftsteller.

Autor George Orwell aka Eric Arthur Blair
"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft": Der britische Schriftsteller George Orwell (1903-1950)Bild: picture-alliance/dpa

In seinem Roman stehen den Bulgaren bei der Abstimmung über das Jahrzehnt, in das sie zurückwollen, zwei Alternativen zur Verfügung: Sie können sich für die Rückkehr entweder zu einem russisch dominierten "real existierenden Sozialismus" vor 1989 oder zu einer unbestimmten, vom Nationalismus geprägten "Goldenen Ära" entscheiden. Am Ende obsiegt eine Mischung aus beidem.

Bulgarische Patrioten mit russischen Fahnen

Genau das beobachtet Gospodinov zurzeit in seiner Heimat, wo sich viele Bulgarinnen und Bulgaren gegen eine Unterstützung der Ukraine durch ihren Staat einsetzen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an so genannten "Friedensdemonstrationen" behaupten, sie seien bulgarische Patrioten, die für eine Neutralität Bulgariens demonstrieren; tatsächlich aber wehen bei ihren Aufmärschen russische Flaggen.

Bulgarien | Anhänger der pro-russischen „Revival“ Partei versammeln sich in Sofia
Pro-russische Demonstration in der bulgarischen Hauptstadt Sofia am 11. Mai 2022Bild: Ihvan Radoykov/AA/picture alliance

Was paradox klingt, ist in Bulgarien Realität: "Wenn man keine Ahnung hat, wie mit dem Gedächtnis umzugehen ist, dann tauchen sofort die Vergangenheitshändler auf", formuliert Gospodinov. "Sie verkaufen eine erfundene Plastikvergangenheit, wo es gleichgültig ist, ob man die bulgarische oder die russische Flagge schwenkt".

Das Überleben der Menschlichheit

Auf Bulgarisch ist "Zeitzuflucht" ein Wortspiel mit dem Wort Luftschutzbunker - wörtlich übersetzt "Bombenzuflucht". "Bei der Wahl dieses Titels hatte ich sogar die Befürchtung, die Angehörigen der jungen Generationen würden vielleicht gar nicht wissen, was ein Luftschutzbunker ist," berichtet Gospodinov. "Blauäugig dachte ich damals, dieses Wort sei mittlerweile nur ein Teil der Geschichte und der Literatur."

Gospodinov betrachtet die heutige Situation als einen Kampf um das Überleben der Menschlichkeit. "Der Krieg wird irgendwann zu Ende gehen, doch unsere Erinnerung daran bleibt - und das ist, was zählt", glaubt Gospodinov. "Wir werden den Krieg weiterdenken und erleben, daher ist es sehr wichtig, welches Gedächtnis wir an ihn haben. Damit dies der letzte denkbare Krieg ist und bleibt", so der Autor von "Zeitzuflucht".

Ein junger Mann mit Bart blickt lächelnd in die Kamera. Er trägt ein weißes Hemd und einen dunklen Blazer
Alexandar Detev Autor, Korrespondent und Redakteur