Jochen Kürten´s Berlinale
11. Februar 2009Die Programme eines großen Festivals gehorchen einer bestimmten Dramaturgie. Das weiß man als geübter Festivalgast. In Berlin spielt sich das meistens so ab: am frühen Morgen strömt die Presse in einen kleineren, engagierten Film, der ein politisches oder gesellschaftlich brisantes Thema behandelt. Mittags gibt es dann oft etwas zum "Ausruhen", das heißt: etwas süffigeres, unterhaltsameres, bei dem mindestens ein oder mehrere Filmstars mitwirken.
Am Dienstag machte man sich also auf, um zunächst den Film des französischen Regisseurs Rachid Bouchareb "London River" zu sehen. Man hatte sich grob informiert und wusste, dass es hier um die Angehörigen zweier Terroropfer geht, die bei den Londoner Busanschlägen vom Sommer 2005 ums Leben gekommen waren. Im Anschluss an diese harte Kost versprach Michelle Pfeiffer filmische Erholung, die Aktrice würde dann in der Colette-Verfilmung "Cheri" zu sehen sein.
Trauer nach dem Terror
Schon zu Beginn des Films "London River" ahnt man, dass das beschauliche Leben der Protagonistin Elisabeth auf der Kanalinsel Guernsey ein Ende haben wird. Als die ältere Frau im Fernsehen die Bilder des zerstörten Busses in der City von London sieht und danach tagelang keinen Kontakt zu ihrer dort lebenden Tochter hat, ist sie am Boden zerstört. Und auch Ousmane, einem schon lange in Frankreich lebenden Afrikaner gelingt es nicht, seinen ebenfalls in London lebenden Sohn zu erreichen. Auch hier Bestürzung, Ratlosigkeit.
Beide reisen in die britische Hauptstadt. Elisabeth begegnet dem Muslim Ousmane anfangs höchst reserviert. Die etwas biedere Frau ist allein schon vom Aussehen des hoch aufgeschossenen Mannes mit seiner tiefschwarzen Haut und den langen Rastalocken irritiert. Doch im Laufe der Handlung entwickeln die beiden so unterschiedlichen Charaktere Vertrauen zueinander, denn sie eint ja das gleiche Schicksal. Beide vermissen ihre Kinder und ahnen, dass diesen etwas zugestoßen sein könnte.
Opulentes Ausstattungskino
"London River" war für mich ein typischer Festivalfilm: bis auf Brenda Blethyn, die aber alles andere als ein "Hollywood-Star" ist, keine bekannten Schauspieler; ein aktuelles Thema, das zudem die hier bei der Berlinale von manchen so heftig eingeforderten politischen Inhalte befriedigt;ein Film, der mir sympathisch ist, der zwei verlorene Seelen auf der Leinwand verfolgt, der menschliches Leid schildert. Aber: sicher kein großer cineastischer Wurf, kein Film, den man Tage lang nicht vergisst.
Danach also Kontrastprogramm. Ich war gespannt auf das nun angekündigte Historiendrama mit dem Superstar aus Hollywood. Schließlich hatte sich der Brite Stephen Frears 1988 mit seinen "Gefährlichen Liebschaften" auf der Kinolandkarte der 80er Jahre verewigt. Auch damals war die wunderschöne Michelle Pfeiffer dabei, auch damals ging es um Liebe und Eifersucht, um Ränkeschmiede und Gefühlsverwirrungen – und das alles vor historischer Kulisse in erlesener Ausstattung.
Schales Ausstattungskino
Doch welche Enttäuschung! Nicht nur ich habe mich während der Vorstellung im Kinosessel von einer Ecke in die andere gedrückt, den Blick immer wieder auf die Uhr gerichtet und schon daran gedacht, was der Tag denn noch so bringen würde. "Cheri" ist der völlig missglückte Versuch von Stephen Frears an den Welterfolg von vor knapp 20 Jahren anzuknüpfen, blutleeres Historienkino, verstaubt und ohne Esprit inszeniert. Einzig die Kostüme der Kurtisane Madame Peloux (Katy Bates), die in ihrer mutigen Farbigkeit ein wenig an die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth denken lassen, sorgen für einige Heiterkeitserfolge.
Ich war froh, als nach 100 quälenden Minuten der Vorhang fiel und man nach draußen eilen konnte, um auf dem verregneten Potsdamer Platz Luft zu schnappen. Und ich musste plötzlich an London denken. An ein seltsames Paar auf der Suche nach zwei Kindern. An zwei Schauspieler, die mit Inbrunst und Verve zwei Menschen aus Fleisch und Blut dargestellt hatten. An einen Film, der mir plötzlich viel besser erschien, lebensklug und von quälender Intensität. Auch das ist die besondere Dynamik von Festivals: Wenn Filme miteinander korrespondieren, Wahrnehmung sich verändert und der eine einen ganz dunklen Schatten auf den anderen wirft. So kann schon einmal ein Film hinter dem anderen verschwinden.
Fazit: 187 Minuten Film. Ein kleiner, großer Film über die Trauer zweier Menschen und ein trauriger Film über Menschen ohne Fleisch und Blut.